Den 20sten: Der Ton des Tages. Und: Die tiefe Trauer. (Beide zum erstenmale, zum Benefiz für Herrn Kaselitz.) / Wer sollte es dem Ton des Tages ansehen, daß es die beinahe wörtliche, gut gerathene Übersetzung eines im Jahre 1728 geschriebenen Lustspieles ist? So wenig hat sich, im wesentlichen, der Ton des Tages verändert. Dieses Lustspiel, L'Ecole des Bourgeois, vom Abbé Dallainval, wurde unverändert im Jahre 1787 wieder auf die Bühne gebracht, und nach der Revolution, mit einigen Zusätzen im dritten Akte, unter dem Titel: le Ton du jour, mit Beifall gegeben. Eine durch Lieferungen und Wucher reich gewordene Wittwe will ihre Tochter vornehm anbringen. Ein ruinirter Marquis sucht sich durch diese Heirath zu helfen, gewinnt Mutter und Tochter durch seinen leichten, hingeworfenen, bald vornehmen, bald gefälligen Ton. Um eine gnädige Frau zu werden, entsagt die Tochter ihrem bürgerlichen Liebhaber, den ihr Oheim in Schutz genommen hat. Dieser, ein schlichter Wechsler, protestirt gegen die hohe Verbindung, wird aber bei der ersten Unterredung mit dem schmeichelnden Marquis, ganz von ihm gewonnen, eingenommen, bezaubert, entzückt; bis endlich ein unrecht bestelltes Briefchen der Familie entdeckt, daß der Marquis im Begriff sey, sich mit ihr zu - enkanailliren. Der Oheim läßt die Hochzeitgäste sich versammeln (es sind die Freunde des Marquis und die Familie der Braut); und statt eines Ehekontrakts unterzeichnet der vermeinte Bräutigam den Kontrakt seiner Braut mit ihrem ersten Liebhaber. Der Gang der Handlung ist einfach, die Intrigue unbedeutend, der Knoten bald gelöst; einige Scenen, besonders die des Marquis mit dem Oheim, sind ächt-komisch und von guter Wirkung. Herrn Ifflands Spiel war in dieser Scene - doch man muß ihn sehen und hören! Wie er mit sich spielen läßt! Wie der mit dreifachem Erze geharnischte, felsenharte Mann zuletzt zum Schneemann wird, und - zerrinnt! Hr. Beschort gab den Marquis mit vieler Einsicht und Anmuth; nicht als einen abgeschmackten, eigenliebigen Geck, sondern als einen sogenannten Mann von gutem Ton und großer Welt. Dem. Maaß nähert sich mit jedem Schritte dem Ideal der feinen, gefälligen Zofe. Herr Kaselitz war, als Intendant, eher weinerlich und ängstlich, als schlau und über alle Gewissenhaftigkeit hinaus. Mutter und Tochter spielten mit Genauigkeit und blieben ihren Rollen treu. Die hochzeitliche Versammlung im dritten Akt, die Vergnügungen dabei, der rauschende Beifall darüber, Gesang, Tanz, Deklamation, war theils feine Satyre des heutigen herrschenden feinen Tons, theils Unterhaltung für das Publikum, theils Ausfüllung dieses Akts, welcher sonst das Mißverständniß mit dem Brief abgerechnet, ziemlich nüchtern ausgefallen wäre. Die beliebte Gavotte des berühmten Vestris wurde von Herrn und Madame Riebe reizend getanzt; die Romanze von Dem. Willich zwar absichtlich manierirt, gleichwohl artig gesungen; die schönste Stelle aus Raynounards Templiers (warum eben die?) übertrieben-französisch deklamirt, und das Stück mit einem Bon-mot des Marquis beschlossen.
Nationaltheater: Ton des Tages (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/113.
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