Zu den wichtigsten Erfindungen und Zusammenstellungen auf der Bühne gehört ohne Zweifel der zweite Akt der Organe. Für den Zuschauer, alles so natürlich, so deutlich, so zusammenhängend; für die interessirten Personen, alles so verworren, so himmelweit aus einander, so unbegreiflich, so ungereimt. Jeder geht seinen Weg so zuversichtlich, bringt dadurch den Andern so weit vom rechten Wege ab; und dieser Andere ist eben so emsig, ihm den nämlichen Dienst zu erweisen; vom Baron Rücken an, bis auf Peter Schafkopf: kurz, es ist ein wahrere Genuß für den Zuschauer; ein doppelter Genuß, weil dieser zweite Akt unvergleichlich gespielt wird, vom Baron Rücken an bis auf Peter Schafkopf. Der erste Akt hat in der Intrique Aehnlichkeit mit dem neuen Jahrhundert; der drite – mit vieln dritten und letzten Akten. Dagegen ist der zweite ein Meisterstück. Die allzuhäufigen Vergleichungen der Hervorragungen oder Platheiten des Schädels mit – der Himmel weiß womit – (im ersten Akt allein zählte ich deren 11 bis 12) erregen zwar jedesmal lautes Gelächter; allein dem Vergleicher scheinen sie jedesmal weh zuthun; denn der Vergleicher hat selbst zu viel Geschmack, um an solchen Behelfen Geschmack zu finden. Herrn Unzelmann und Madam Fleck sagen wir für die Art, mit welcher sie ihre Rollen ausführten, den verdienten Dank. Dem. Maaß fühlte das Unbedeutende der ihrigen im ersten Akt viel zu sehr, um sie in den folgenden zu heben; wenigstens blieb sie im zweiten zu kalt, selbst da, wo sie den ungestümen Liebhaber abweiset. Warum hat sie nicht ein wenig von der Jähzornigen Frau blicken lassen, die ihr so gut läßt; oder von der Henriette in der Schachmaschine, die ihr so gut gelingt? Noch eine Kleinigkeit. Ihr Vater ist 2000 Louisd’or schuldig, und sie spricht von 200. Ihr Vater hat für diese 2000 Louisd’or zwanzig Spartiatenschädel gekauft, und ihr Bruder findet 50 Louisd’or für einen Schädel zu viel. Sohn und Tochter haben keinen Zahlensinn, obgleich ihn der Vater bei seiner Tochter geradezu voraussetzt.
Den 13ten: Die Organe des Gehirns. Plan und Ausführung sind in diesem Stücke eben so glücklich entworfen als meisterhaft bearbeitet. Die Verwickelungen sind so natürlich wie die Entwickelungen. Alles liegt in der Sache selbst; und in der Sache selbst liegt auch, daß Baron Rücken, mit seinem Schädelkasten in den Armen, der glücklichste Betrogene ist, und folglich alle Parteien zufrieden sind. Aus Herrn Ifflands Spiel hebe ich heute nur die Feinheit in den Nuancen aus, womit er seine Verwunderung über die ihm genannten Leute (wie er sie nennt) ausdrückt. Beim Namen Robespierre schaudert er wider Willen zurück. Hier siegte auf einen Augenblick der Abscheu vor dem Manne über das Studium seines Schädels; ein schöner, feiner, psychologischer Zug! Uebrigens sah er, über seinen Kasten gelehnt, einer sorgsam brütenden Henne über ihren Eyern nicht unähnlich. Herr und Diener in einer Person erweckt immer das Bedauern, daß der Compositionen des viel zu früh verstorbenen Della Maria so wenige sind. Besonders läßt sich von der heutigen Darstellung dieses beliebten Stücks nichts sagen, als daß Dumont sich immer gegen Picard zu tief verneigt.
Nationaltheater: Organe des Gehirns, Die (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/120.
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