Man sollte es der liebenswürdigen, bescheidenen Jeannette schwerlich ansehen, daß sie im vorigen Jahrhundert in verschiedenen Gestalten zweimal halb Europa entzückt hat. Richardson schrieb seine Pamela und England, Deutschland und Frankreich bewunderten sie enthusiastisch. Voltaire gestaltete Pamela 1749 zu Nanina [!] um: in Frankreich konnte man sich nicht sättigen, sie zu sehen, und in Deutschland genoß sie die hohe Ehre, das einzige Stück Voltairens zu sein, um das Lessing, in seiner Dramaturgie, nicht mit ihm zankte, das er sogar mit Wärme vertheidigte. Aus dieser Nanine schuf Gotter, durch eine freie Bearbeitung seine Jeannette. – Das Stück trägt das Gepräge der Meisterhände, durch die das Sujet gegangen ist. Unsere Bühne hat, Minna von Barnhelm abgerechnet, kein anderes Lustspiel, dessen Handlung so vortrefflich motivirt ist, das so rein ist von allen Auswüchsen; dessen Charaktere so bestimmt wahr und scharf gezeichnet und gehalten wären, als alles dieses in Jeannetten der Fall ist. Selbst die Reden: in dem ganzen Stücke ist vielleicht nicht Eine überflüssige, müßige, nicht eine die nicht ein Gefühl ausdrückte oder einen Charakterzug gäbe, durch deren Weglassung nicht eine Lücke entstünde. – Mit allen diesen Vorzügen ist Jeannette mehr als einmal auf die Berliner Bühne gebracht worden, und hat – kalt gelassen, hat sich nicht erhalten können. Diesesmal ist sie mit lebhaftem Beifall aufgenommen worden. Will man eine Erklärung dieser Sonderbarkeit? Wahrscheinlich waren die Schauspieler, die sie ehemals gaben, den zarten und so äußerst gehaltvollen Charakteren nicht gewachsen; gewiß aber war der Geschmack des Publikums vor dem sie spielten, noch nicht gereift und gereinigt genug, um an einem Stücke dieser Art Gefallen zu finden. Wir dürfen jetzt mit Stolz sagen: »Wir besitzen eine treffliche Bühne!« – denn Jeannette ist vortrefflich ausgeführt worden; – »Berlin hat ein geschmackvolles, feingebildetes Publikum: –« Jeannette hat sehr gefallen. Iffland selbst machte den Grafen. Unbeschreiblich schön war der stille Ausdruck seiner Gefühle in den ersten Scenen; das Ausbrechen derselben, als ihm, nachdem er seine Geliebte selbst verbannt hatte, Kleists »Ein weiter Raum trennt Lalagen von mir« vorgesungen wurde, das Aufbrausen seiner Empfindungen, als die Angebetete unschuldig befunden, und sein Entzücken, als sie zurück gekehrt war. Er schien con amore zu spielen – denn die Rolle ist schön, und das Stück von seinem verewigten Freunde, Gotter – : und wenn ein Iffland con amore spielt, welcher Genuß für jeden, der Gefühl und Geschmack genug besitzt, ihn zu verstehen! – Mdme Meyer spielte die Baronin mit einem Feuer und einer Wahrheit, wie diese sonst große Künstlerin selten zeigt. Jede Nüance hob sie kraftvoll hervor und alles glückte ihr trefflich. Dlle Döbbelin machte die alte Gräfin, in ihrer ersten Scene am Ende des zweiten Aktes vielleicht etwas zu karikirt, im letzten Aufzuge meisterhaft schön. Sie wurde am Ende des Stücks herausgerufen und dankte sehr naiv im Charakter ihrer Rolle. – – Neben diesem Meister und diesen Meisterinnen trat Dlle Mebus zum erstenmale in einer bedeutenden Rolle, als Jeannette, auf. Neben ihnen zu glänzen, durfte sie nicht hoffen: aber das Bewußtseyn, daß sie mit ihnen etwas Ausgezeichnetes zu leisten hatte, schien sie zu begeistern, und sie hat an dem heutigen Abend alle die Vorurtheile, die man gegen sie hegte, auf eine sehr einnehmende Weise widerlegt. Man beschuldigte sie des Mangels an Gefühl: aber sie hatte bis jetzt nur noch nicht Gelegenheit zu zeigen, wie reich sie daran ist. Manche Momente, zum Beispiel jener, wo ihr der Graf seine Liebe erklärte; der, wo sie sich, im Begriff zu entfliehen, jener Erklärung erinnert; der wo sie dem Kammerdiener, Florian, ihre tiefe Verachtung bezeigt; der endlich, wo sie aus der Umarmung der Gräfin fortstürzt, um sich an die Brust ihres Vaters zu werfen, wurden von ihr mit solcher Wahrheit und Tiefe des Gefühls gegeben, daß ihr selbst vielleicht vor der Ausführung nicht die Idee von dem was sie wirklich leistete, deutlich vor der Seele stand. Erlernt haben konnte sie das nicht: es brach unwillkührlich aus ihrem Herzen hervor. Sie führte die ganze Rolle seelenvoll und verständig durch: mehrere Scenen gelangen ihr sehr schön: gleichwohl wurden ihre Bemühungen kalt aufgenommen, und so oft Unbefangne ihren Beifall wollten laut werden lassen, forderte eine Partei, deren Motive man leicht errathen kann, Schweigen. Umsonst sprach die junge, schöne Künstlerin die in ihrem Munde so bedeutenden Worte: »Wodurch hab’ ich den Haß aller dieser Leute verdient? Ich bin mir nicht bewußt, Einen Menschen beleidigt zu haben!« Ach, die grimmigen Tigerherzen blieben unerschüttert! – Die Unglückliche wird sich schon damit begnügen müssen, daß die Direktion und alle Geschmackvollen im Publikum in der ersten Rolle, die ihr die wirkliche Ausführung eines Charakters auflegte, sehr mit ihr zufrieden waren. – Herr Weizmann spielte den Gärtner Blum sehr naiv und drolliggefühlvoll.
Nationaltheater: Jeannette (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/124.
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