Dieses Stück, welches dreizehn Jahr auf der Bühne ist, und hier vielleicht über sechzigmal gegeben ward, ist an jenem Tage von einem solchen Zulauf der Menschen aus allen Klassen und Ständen besucht worden, daß eine beträchtliche Zahl aus Mangel an Raum vor Anfang der Vorstellung zurückgehen mußte. Den Widersachern von Kotzebue’s Muse ist also abermals durch das große Publikum lebhaft widersprochen. – Die Sonnenjungfrau hat Fehler – aber sie hat hinreißende Vorzüge. Die dürftigen Gehegebereuter, welche auf diese Fehler Jagd machen, und im Namen einer Aesthetik, wovon ihr inwendiger Mensch nichts gewahrt, sie auf den großen Platz jagen, um der Lesewelt eine Hetze zu geben, haben noch nichts hervorgebracht, was einem so oft wiederholten Genuß zu geben vermogt hätte. Möge Herr von Kotzebue fortfahren, Stücke mit kleinen Fehlern und großen Vorzügen zu schreiben. Diese werden erfreuen und leben, wenn der Fangeball, womit seine Gegner herumspuken, längst in den Sand getreten und vergessen ist. Möge doch aber auch nun Herr von Kotzebue zum Besten der Einfältigen – welche nicht immer die Dummen sind – einmal wieder in Prosa schreiben. Geraume Zeit her sind wir zwar von manchen Dichtern durch Verse erfreut und erhoben, mit unter doch auch gedehnt und gereckt. Der Vers führt mehrentheils weiter als die Sache es fordert; die Crème foité [!] ist eine Speise, welche nicht vorhält, und das Reimgeklingel verbirgt oft nur den Mangel an Kraft. Für den, welcher nicht mit zu hohen Ansprüchen in das Schauspielhaus sich begeben hat, als die sind, von einem berühmten Theater eine gute Vorstellung zu sehen, war die Vorstellung der Sonnenjungfrau eine gute Vorstellung. Es war Anstrengung, Zusammenhang, Anstand und Aufwand zu dem Zwecke vereinigt, Vergnügen zu verschaffen. Wer aber mit Ideal und Forderung idealischer Darstellung vor den Schauplatz getreten ist, der könnte nur von Cora-Unzelmann sich befriedigt finden: – Da war Vollendung! Der trübe, weiche und doch feste Rolla, der Liebhaber und Heerführer, der Mann und Jüngling, der Sohn der Sonne und der Europäer – ist vielleicht von keinem Künstler in der Welt unter den Brennpunkt von Wirkung zu bringen, welcher das Ideal der Zuschauers erfüllt, als gerade von dem, welcher zufällig alles in sich vereint, was Rolla ist. Auf eine sehr achtungswerthe Art hat Herr Mattausch das Studium zu Tage gelegt; sanfte Schwermuth, stürmische Jugend und Heroensinn vereinen zu wollen. Aber die Schwermuth artete hie und da aus in eine ruhige Malerei, der Jugendsturm in gewöhnlichen Eigensinn, und der Heroensinn fern von genialischer Flamme, in festes Selbstgefühl. Es ist die Frage: ob Herr Mattausch, wenn er der Regbarkeit seines Gefühls von seinem herzlich ansprechenden Organe vorgetragen sich ganz überlassen, dabei einige zu grelle Uebergänge in die Manier der Konversation, welche hier auf keine Weise hergehört, vermieden haben würde, nicht näher zum Ziel gelangt seyn sollte, als durch ein Studium, welches hie und da Zwang, übergrenzendes Gesichtsspiel verursacht hat, und den Feuergang des jungen liebenden Helden in die Manier unserer Konventionen untertauchen mußte. Sichtbar ist das Bestreben des Herrn Mattausch seine Helden mehr innere Würde, seinem Gesichtsspiele mehr Ruhe zu geben, und von der Prahlerei der Vorstellung sich mehr und mehr zu entfernen. Er wird es erreichen, und dann die Vorzüge seines Empfindungsvermögens und seiner Gestalt, die um so mehr wirkt, je minder er sie geradezu wirken lassen will, auf ächte, edle Weise geltend machen. Die Darstellung des Oberpriesters war ungleich; der ersten Scene mangelte zarter Antheil und Würde des Alters, wenn schon Hr. Iffland an Menschenwürde es nicht fehlen ließ. Der Vortrag war etwas manierirt. Die Scene mit Rolla an Cora’s Grabe hub lebendig, kräftig und geistvoll an, fiel in der Mitte und endete gewöhnlich; der Ton wechselte zwischen Greisesschwäche und mittlerem Mannesalter. Vielleicht fehlte ihm die Einwirkung von Rolla’s Jugendsturm im schönen Kolorit des edlen Zornes, den der Vater umgeben und sanft entgegen wirken sollte. Erhaben sprach Herr Mattausch in dieser Scene die Worte: – »ich that Euch Unrecht, Oheim!« Alles Uebrige war von Seiten beider Schauspieler nicht von gutem Belang und ließ kalt. In der Scene des vierten Akts mit den Priestern und der darauf folgenden mit Cora und Alonzo war Hr. Iffland wahr, stark und hinreißend in Wort, Gestalt und Haltung der Handlung durch Gebährde und Ton. Der fünfte Akt sank wieder. Ein Schauspieler, welcher zugleich Direktor ist, mag von mancherlei Gegenständen während einer Vorstellung herabgezogen und entkräftet werden, woraus Ungleichheit seiner Darstellung entsteht. Zu wünschen wäre es indeß, daß dieses nicht seyn möchte. – Herr Bethmann gab die widrige Rolle des Alonzo mit Fleiß, Sorgfalt und hie und da mit Empfindung. Seine Lebhaftigkeit riß ihn etliche male zur Ueberschnellung hin, welcher er sonst entgegen zu streben beflissen scheint. Wenn die Worte markigt ausgesprochen werden, das Ende der Perioden nicht verschluckt wird, so bedarf man nicht den Fluß der Rede zu hemmen, um Ueberschnellung zu vermeiden. Außerdem ist der Fleiß und die fortgehende Verbesserung des Herrn Bethmann nicht zu verkennen. Herr Schwadtke, welcher die Rolle des Königs übernommen, spielte den dritten Akt mit Würde und Zartheit. Für den Schluß des fünften Akts bedarf es von seiner Seite einer eindringendern Beredsamkeit, und er hat alsdann alles erfüllt. Mad. Herdt als Oberpriesterin, so wie Hr. Lemke als Zorai verwenden nicht Kraft genug. Letzterer ward im fünften Akt gar unverständlich. Dem. Mebus spielte die Sonnenjungfrau recht artig, und hatte sich endlich immer eine größere Lebhaftigkeit gegeben. Das Gefolge des Königs war nicht zahlreich genug. Die Sonne war arm und matt gelb. Die Musik, unter welcher der König erscheint – abgerechnet, daß sie das erstemal in ein gänzliches Stocken gerieth – sollte aus dem Innern des Palastes erschallen, nicht aber durch doppelte Zeichen eines Klopfers unten im Orchester anheben. Niemand erinnert sich, daß dieses Klopfen am Hofe zu Quito ein hergebrachtes Etikett wäre. Da die Tricots die bloße Haut vorstellen und nicht Tricots, so sollten auch die Blößen so sittlich bedeckt werden, als selbst die Wilden sie zu bedecken pflegen, und wie auf dem Theater zu Berlin Wilde erscheinen müssen. – Die Musik einiger Zwischenakte, besonders das Concertant der Fagotte, war mit Geschmack gewählt, und wie hierin seit einiger Zeit Sorgfalt bewiesen wird, ist zu hoffen, daß diese zunehmen, und so das Ganze sich immer mehr veredeln werde.
Nationaltheater: Sonnenjungfrau, Die (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/185.
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