Die Darstellung dieses durch ein paar Aufführungen im Opernhause dem hiesigen Publikum schon bekannten musikalischen Dramas, auf der deutschen Bühne, ist eine zu merkwürdige Neuigkeit, um mit Stilschweigen übergangen zu werden. / Der Verfasser hat seinen Stoff der mythischen Fabel treu, einfach und interessant behandelt, und dieses Verdienst ist gewiß wesentlicher, als eine problematische Nachbildung des thespischen Trauerspiels, das kein Urbild zur Vergleichung mehr darbietet. / Die Situation der unglücklichen Callirhoe, die als eine Feindin der Liebe, unwissend, die Rache einer andern Gottheit über sich und ihr Vaterland gereizt hat: - sich zu deren Söhnung, als patriotisches Opfer darbietet, um, da der verschmähte Coresus, des zürnenden Dionisos Priester, sein Leben für das ihre hingiebt, von dieser That erschüttert, zuletzt, als büßendes Opfer der Liebe, hinsinkt; ist reich an Zügen für dichterische und mimische Versinnlichung, die Schrecken und Theilnahme zu erregen fähig sind, und der musikalischen Behandlung eines Gluck würdig gewesen wären. Dieser letztere Wink, weit entfernt Tadel des schätzbaren Componisten dieses Stücks anzudeuten, ist vielmehr Anerkennung seiner geschmack- und gefühlvollen Behandlung des Süjets und der zweckmäßigen Auswahl eingeschobener Sangstücke anderer Meister, deren keines, - nach moderner Idee versteht sich! von der Einfachheit der Natur und des Zeitalters zu weit abweicht, oder wenigstens zu sehr am italienischen Kunstgesang erinnert; - wobei das Ganze, durch melodischen und harmonischen Ausdruck sich dem Ohr sehr schmeichelhaft empfiehlt. / Von Seiten des Gesanges und der Darstellung leistete Madame Marchetti Fantozzi alles, was man von einer so ausgezeichneten Künstlerin geleistet zu sehen berechtigt und gewöhnt ist, in vorzüglichem Grade. / Die Ballette, von der Erfindung des Solotänzers Herrn Scalesi, waren sehr charakteristisch, voll reinzender Attitüden, und malerisch schöner Gruppirung; in deren Detail er selbst, Herr Moser, Herr und Madame Gasperini, und die Demoiselles Schultz, Hentschel und Weiß ausgezeichneten Beifall erwarben. Trotz all dieser vereinigten Talente, war das Haus nur zur Hälfte gefüllt, woran vielleicht die Besorgniß, es überfüllt zu finden, schuld gewesen seyn mag. / Ein so seltener schöner Genuß verdient aber wohl, vom Publikum mit einer kleinen Aufopferung vergolten zu werden, und für die der italienischen Sprache Unkundigen ist ja durch eine sinnvolle Uebersetzung des Original-Textes gesorgt – In wiefern das Publikum wünscht, die deutsche und welsche Kunst Hand in Hand gehen zu sehen, wird die zunächst bevorstehende Wiederholung dieses Stückes entscheiden. / - r -
Nationaltheater: Callirhoe (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/230.
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