Mittwochs den 30. May. Lodoïska, Oper in 3 Aufzügen, nach dem Französischen mit Cherubinis Musik. — Die Manier der neueren französischen Musik ist bekannt genug. Ihre Beurtheilung liegt ausser den Gränzen dieses Blatts. Ein Kenner der alten Musik, Herr Friedrich Nicolai vergleicht den Geschmack in der Musik mit einer schönen Blume, deren Geruch eine Zeitlang ergötzt, und die bald verwelket. Es giebt Moden in der Musik, so gut wie in der Kleidung, und die mehrsten Zuhörer finden Lodoïska nur göttlich, weil sie von Cherubini ist, und dieser der Komponist des Tages. Indeß wird der zum Theil schöne und reine Gesang dieser Oper sie vielleicht noch dann erhalten, wenn die Künsteleyen und Kleinigkeiten in der Instrumentalbegleitung längst einem veränderten und Gott gebe besserem Geschmacke in der Musik Platz gemacht haben werden. Mad. Müller singt die Lodoïska. Diese verdienstvolle Künstlerin, welche dem Berlinischen Publikum so lange Zeit Vergnügen gemacht hat, und unsre beste Sängerin war, scheint von demselben jetzt mit einiger Kälte behandelt zu werden. Es ist Ton, zum Vortheil einer andern Künstlerin, über sie wegzusehn, und ihr sogar eine Stimme abzusprechen, welche vor wenigen Jahren dieselben Schreyer in Entzücken setzte. Kenner behaupten, daß es nicht Mangel an Stimme sey, was die competentern Tadler der Mad. Müller an ihrem Gesange auszusetzen haben. Es scheint, sie habe eine sehr angenehme Stimme, die sich gegen die volle und starke Stimme der Mad. Schick, welche letztere in ihrer vollen Kraft herauszuziehen versteht, wohl hören lassen darf. Allein sie scheint in dem Gebrauche derselben, zu ihrem Schaden, nicht ökonomisch genug zu seyn. Sie intonirt so stark, daß gegen die Mitte des Gesanges ihre Stimme Erhohlung bedarf, und um die Nothwendigkeit des Athemholens dem Zuhörer zu verbergen, fährt sie mit einer Anstrengung fort, die ihr theils Schaden thun, theils bisweilen unangenehme Töne hervorbringen muß. Sie würde mit einer geringern Anstrengung und sparsamen Eintheilung der Stärke des Gesanges, mit ihrer sonst lieblichen Stimme mehr wirken. Auch legt sie zu viele Accente auf hinter einander folgende Töne, welches vor zu vielem Ausdrucke, den Gesang bisweilen ausdruckslos macht. Herr Eunike singt den Titzikan, Fürst einer Tartarenhorde. Er sieht aber weder einem General, noch einem Fürsten, noch weniger einem Tartaren ähnlich. Sein Tenor ist angenehm, seine hohen Töne fallen aber ins widrige, indem er halb durch die Nase singt; sein Anstand ist durchaus weibisch, die Haltung seines Kopfes affektirt, seine Glieder läßt er unmännlich hängen und schlottern, seine Gesticulationen sind höchst einförmig, auswendig gelernt und so mechanisch, wie ein anfangender Schauspieler sie etwa macht, seine Stimme endlich ist auch im Sprechen singend und höchst unverständlich, an Deklamation ist gar nicht bey ihm zu denken. Kurz er ist ein angenehmer Sänger, und hat eine angenehme Figur, aber von der Schauspielkunst hat er kaum die ersten Anfangsgründe inne. Herr Ambrosch als Floresky, und Herr Beschort als Barbel, bestätigen den Ruf ihrer bekannten Talente auch in diesen Rollen. Besonders spielt Herr Beschort den — uns Deutschen etwas fremden Charakter — des Barbel mit ungemeinem Leben und Leichtigkeit. Herr Leidel als Talma verdient Lob. Er hat einen angenehmen Baß, von mäßigem Umfange, und spielt mit großem Fleiße. Herr Labes, als Offizier, ist hier, wie in vielen Fächern, ein brauchbarer Schauspieler, und seine Stimme hat Geschmeidigkeit. Das Costüme wird in diesem Stücke gut beobachtet. Ueberhaupt muß man die im ganzen treue Beobachtung desselben, die geschmackvolle und reiche Garderobe des Theaters, und die vorzüglichen Dekorationen zu den Verdiensten der jetzigen Direktion zählen, welches ihr um so mehr zur Ehre gereicht, da sie demungeachtet einen beträchtlichen Fond zur Unterhaltung alter Schauspieler aus den Ueberschüssen der Theaterkasse errichtet haben soll.
Nationaltheater: Lodoiska (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/236.
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