Den 20ten December: Ariadne auf Naxos. Madame Hartwig: Ariadne. Es kann in einer Zeit ein Kunstwerk mit Recht berühmt seyn und in einer andern mit Recht als unbedeutend betrachtet werden. Es kommt dabei auf die Fortschritte an, welche die Kunst selbst in der zwischenliegenden Periode machte. Vorzüglich gilt das von der Musik, der eilendsten unter ihren Schwestern. Sie war nie fixirt, kann es nie werden. Das ist auch mit keiner Kunst je der Fall gewesen. Wenn die antiken klassischen Statuen noch unerreicht da stehen, so liegt es daran, daß seit der erneuten Blüthe der Kultur, die Antriebe noch nicht mächtig genug wurden, die schwierigere und kostspieligere Kunst zu ihrem alten Glanz empor zu heben. Hätten aber die Verhältnisse Griechenlands ununterbrochen fortgewährt, so ist kein Grund zum Zweifel da, daß die jetzigen Künstler auch die Werke eines Phidias zurücklassen würden. Die Musik hingegen fand in neuern Zeiten, im katholischen Kultus und bei den Bühnen Aufmunterung genug, dazu tritt die Leichtigkeit sie auszuüben, (ein Buch Notenpapier, eine Geige u. s. w. finden sich bequemer, als ein Block Parischer Marmor,) und die Ursachen ihres raschen Fluges sind erklärt. Dreißig Jahre, die Benda’s Ariadne zählt, werden hier demnach schon ein wesentlicher Zeitraum. Der Reiz der Neuheit ging natürlich unterdessen ganz verloren. Die Tongemälde, welche Löwengebrüll, Herzklopfen u. dergl. figürlich nachzuahmen streben, die bei ihrer ersten Erscheinung entzückten, sieht ein philosophisches berichtigtes Urtheil als kleinliche Spielereien an. Wo damals der Wirkungskreis der Instrumente noch sehr beengt war, hat er sich mit Freiheit erweitert, Mannichfaltigkeit und vollendeter Ausdruck sind entstanden, und ärmlich klingt dem Verwöhnten eine Partitur alter Art. Nur den harmonischen Gängen, auf bleibendere Gesetze gestützt, läßt man noch volle Gerechtigkeit widerfahren. Es ist daher für eine Schauspielerin gewagt, in der Ariadne aufzutreten. Ihr Verdienst muß die eine Hälfte des Stücks, (die nur noch den ältern Zuhörern, der Reminiszens halber, gefällt) übertragen. Dessen ungeachtet bleibt unter ihnen die Rolle noch immer beliebt, (wie denn auch Mad. Bürger sie im vorigen Jahre hier gab,) was vielleicht den mancherlei malerischen Stellungen, zu denen sie Anlaß liefert, zuzuschreiben seyn dürfte. Dies ist denn nun freilich ein zarter Punkt, und er fordert die Kritik fast auf, nur ausschließlich darauf hinzublicken. Das mag denn also hier geschehen, und der schöne Anstand der Madame Hartwig als Ariadne, bei Schlummer und Traum, bei dem sehnsüchtigen Hinblicken auf die Wogen, die Theseus entführen, und am meisten beim Sturz in diese selbst, und zwar mit allem Recht, gerühmt werden.
Nationaltheater: Ariadne auf Naxos (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/240.
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