Die Geschichte des Prinzen
Ragotzi, wie er Anfangs des vorigen Jahrhunderts an der Spitze der
mißvergnügten Ungarn gegen den Kaiser sich empörte, gefangen auf das Schloß zu
Neustadt an der Ungarischen Grenze gesetzt ward, und von dort entfloh, ist in
dieser Oper behandelt. Sein Freund und Kriegeslehrer Lehmann ist, nebst dessen
Tochter Amelina, in die Begebenheit verflochten. Die Treue, die Liebe, womit
beide ihm zugethan sind, veranlassen Begebenheiten, welche mit Feinheit
angelegt, verwickelt und aufgelöset sind. Das Interesse ist herzlich, es steigt
mit jeder Scene, und die Musik ist melodiereich ohne Tändelei, neu ohne
Künstelei, und erhebt das Ganze durch romantischen Schwung. Die Vorstellung war
mit der Anstrengung, welche Genüge leisten wird, und mit jener Gefälligkeit
gegeben, welche den eignen regen Sinn zu Tage legt, womit die Schauspieler sich
für ein Werk interessiren. Herr Gern, als Lehmann, gab diese treffliche Rolle
sehr durchdacht, und besonders im zweiten Akt mit der Kraft, Feinheit und
Mannigfaltigkeit, mit jener treuen Haltung u. hohen Herzlichkeit, die den
wahren, ächten Künstler bezeichnet. Sein Gesang war im Geist der Rolle, dabei
sanft und zum Herzen redend, wie gewöhnlich. Herr Weitzmann sang den Ragotzi
hinreißend schön, und ward von dem Publikum durch allgemeinen Beifall belohnt.
Sein Spiel war schüchtern, hie und da ungewiß; doch nicht unwahr, und an
Festigkeit der Rede und Haltung ist Hr. Weitzmann mit dieser Rolle merklich
vorwärts gegangen. Sein Fleiß und Eifer sind unverkennbar, und werden ihn auf
seiner Bahn, wenn er Beharrlichkeit hat, rasch vorwärts führen. Mad. Müller
sang und spielte Amelina sehr brav. Die Beklommenheit, womit sie am Schluß des
ersten Aktes auf die Bühne stürzt, die Angst, als sie den Vater und den
Geliebten nicht findet, die Verzweiflung, womit sie ihm nachstürzt, wurde im
großen Styl und mit Kraft gegeben, wie man diese selten verwenden sieht. Hr.
Labes als Sergeant Jorner, war herrlich kostümirt, und erhielt Leben und
Bewegung in den Gruppen, ohne sich deshalb vordrängen zu wollen, oder im
Mindesten zu übertreiben, worin er von Hrn. Leidel gut unterstützt ward. Diese
beiden Rollen sind für den Erfolg des Stücks sehr wichtig, und es gereicht
ihren Darstellern zur Ehre, daß sie das begriffen haben. Hr. Ambrosch legte in
der Rolle des Hauptm. Werner alle Bedeutung und durchgesetzte Haltung, welche
der Ernst der Begebenheit fordert. Die schweren Chöre wurden diesesmal
besonders gut ausgeführt, und die Physiognomien der Sänger nahmen Theil an der
Handlung. Das Kostüm war richtig und treu. Die erste Erscheinung der Krieger,
wie sie den Felsen herabkommen, erinnert an Wouvermanns Gemälde und die
Anordnung ihrer Hintergründe. Das Kostüme von 1701 ziert den Einzelnen nicht
besonders, aber das Ganze ist imposant. Da die Frauenzimmer gewöhnlich die
Kostüme aller Völker und Zeiten ins modern Griechische herüberziehen, so sieht
man die Kostüme nur von den Männern mit Treue beobachtet. Die schöne Arie des
Herrn Gern im ersten Akt, soll von einem hiesigen Komponisten seyn, der die
Bescheidenheit, sich nicht zu nennen, oft zu weit treibt. Wenn es ehrenvoll
ist, nicht die Charlatanerien mitzumachen, die oft den Ruf erzwingen: so muß
man deshalb doch nicht selbst ungerecht gegen Genie und Fleiß werden.
Die Bestürmung des Schlosses, womit die Oper schließt,
ist allerdings nur durch Darstellung der Gewalt und des Schreckens
wahrscheinlich zu machen, und dieser Zweck ist mit unterhaltener Lebhaftigkeit
und Bestimmtheit im Gebrauch der Waffen, erreicht worden.
Nationaltheater: Lehmann (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/294.
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