Picard, wie man weiß, stellt eine Rolle in den Vordergrund, führt einen Hauptcharakter durch, und behandelt alles übrige als Figuranten und Folie. Man denke an seinen Müßling, seine Nachbarschaft, seine Marionetten etc. Noch hat Picard kein eigentliches Intriguenstück geliefert. In den Ifflandschen Schauspielen ist auch mehrentheils ein anziehender kontrastirender Charakter eingewebt; aber, wohl verstanden! nur eingewebt; es ist selten der Hauptcharakter; er gehört episodisch mit zur Intrigue, konzentrirt sie aber nicht in sich; ein wahrer, wichtiger Vorzug, den Iffland vor Picard voraus hat. Als Ami de tout le monde stellt Picard einen Charakter auf, dessen Gränzen nicht genau abgesteckt sind. Bald ist es ein Schwächling, ein Schmarotzer, ein Alltagsmensch, der sich durch kleine Dienstgefälligkeiten einzuschmeicheln, durch übernommene schwerere Aufträge, die er sich leicht zu machen weiß, wichtig und unentbehrlich zu machen strebt. Bald ist es ein ganz schlechter Mensch, ein Egoist von der verächtlichsten Klasse, der einen Schulfreund hat, und ihm nicht hilft, eine Schwester, und sich nicht um sie bekümmert: und so kommt er mit der Schlußermahnung Courvilles: »Sie lieben nur sich; bleiben Sie Garçon«, viel zu leichten Kaufs davon. In der ersten Hälfte der Schilderung seines Mondoux (verkürzt, für: Mon doux ami, mein Werthester) ist Picard weit glücklicher gewesen, als in der zweiten. Courville’s Rolle ist klein, aber interessant und gut gezeichnet. Die des Schreibmeisters Duclos ist verfehlt, eben weil sie, als Kontrast, zu weit herbeigezogen und episodisch ist. Courville hingegen greift in das Stück ein. Herr Iffland, als Mondoux, ist ganz der gelenkige, geschmeidige, sich anbietende, sich einschmeichelnde Häusling; besonders ist sein Colophoniumfeuer, wenn er sich für oder wider jemand aus wahrer Freundschaft zu interessiren scheint, echt-komisch oder vielmehr echt-kosmisch. Seine Lehren an Duclos werden von ihm so ernst u. ungescheut debitirt, als wäre es ein Kollegium der Welt- und Menschenkunde. Nach ihm spielten Herr Daligny (Hr. Herdt) und Courville (Herr Bessel), Mad. Daligny (Mad. Schick) und Laura (Mlle Ritzenfeldt) ihre ziemlich unbedeutende Rollen sehr gut; die übrigen sind noch unbedeutender. Herr Labes, als Joseph, zeigte in seinen Reden zu richtigen Sinn, um sich eine so gar einfältige Außenseite zu geben. Schlecht und recht ist, dünkt mich, der Geist seiner Rolle, ungeachtet ihn Mondoux ihn ein wenig dumm schilt. Mondoux will ja dadurch der Kammerjungfer nur etwas Gefälliges sagen. Als unbedeutende Kostümbemerkung mag hier noch stehen, daß es auffiel, alle Männer, bis auf den letzten, hintereinander in schwarzen Beinkleidern auftreten zu sehen.
Nationaltheater: Aller Welt Freund (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/321.
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