Am 7ten April wurde die Zauberin Sidonia aufgeführt. Über den Inhalt und den Werth dieses Stücks behalten wir uns eine umständliche Zergliederung und Beurtheilung vor. Hier nur so viel; man hat, wie gewöhnlich, auch bei Gelegenheit dieses Stücks Lob und Tadel übertrieben. Unläugbar sind einzelne gute Scenen darinn, besonders die zwischen der Sidonia und dem Cynthio. Im Ganzen gehts darinn bunt durcheinander und man weiß oft nicht, wo man eigentlich ist. Aber was kann eine vortrefliche Vorstellung aus dem mittelmäßigsten Stücke machen? Ohne Prahlerei, die Zauberin Sidonia kann sicher auf keinem Theater so vorgestellt werden wie hier, denn welche Bühne kann jetzt wohl drei solche junge Aktrizen aufweisen, als unsre Unzelmann, unsre Eunike und unsre Fleck? Die Rollen der Sidonia, des Cynthio und der Jolanda scheinen für alle drei geschrieben zu sein. Cynthio ist ein 17jähriger Jüngling, schön wie Adon, rasch und kühn wie der Pelide, naif wie ein Mädchen und zärtlich wie Werther, ein wahrer Alzibiades. Um ihn ganz dargestellt zu sehen, muß man der Täuschung ein kleines Opfer bringen und ihn weiblichen Händen anvertrauen, denn welche Bühne hat wohl einen männlichen Schauspieler, der zugleich Jugend, Talent und Ausbildung genug besäße, um alles auszudrücken, was Cynthio ist? Aber welche Bühne hat auch eine Eunike, die uns so ganz den schönen, naifen, zärtlichen und feurigen Jüngling hinzuzaubern weiß? Sie entzückte, rührte und erschütterte in gleichem Grade. Wie beneidenswürdig schien uns Sidonia, auf deren Schooß dieser reizende, verführerische Bube schlummerte, welch ein Mädchen wäre nicht gern an ihrer Stelle, welcher Jüngling nicht lieber ein Mädchen gewesen? Man muß so blühend schön wie Madame Eunike, so idealisch gebaut wie sie sein, um der raschen, leidenschaftlichen Liebe der Sidonia volle Wahrscheinlichkeit zu geben; man muß ein so volles, überströmendes, unaufhaltsames Gefühl wie sie besitzen, um glauben zu können, daß der Knabe Cynthio der Gewalt, der geheiligten Autorität des geistlichen Gerichts und der kindlichen Liebe trotzen, in den Kerker und durch die Reihen gewaffneter Soldaten stürzen wird, um seine Sidonia zu retten. Aber mitten in der schrecklichen Scene des vierten Akts, wo Madame Eunike in der fürchterlichsten Wuth Himmel und Erde beschwört und durch ihr Feuer und die Kraft ihrer Stimme alle Zuhörer in Erstaunen setzt, konnten wir doch das Gefühl nicht unterdrücken, daß der naife, zärtliche Cynthio liebenswürdiger als der zornige und ungestüme ist. Wer möcht' auch nicht lieber den schönsten, heitersten Himmel, als die rauchende, Blitze schleudernde Gewitterwolke sehen?
So einleuchtend es uns war, daß Sidonia einem solchen Cynthio sich mit ganzer Leidenschaft hingab, so einleuchtend war es uns auch, daß Cynthio einer solchen Sidonia gegenüber nicht schwächer lieben, nicht weniger rasch und ungestüm handeln durfte, wenn es auf ihre Rettung ankam. Uns scheint Sidonia eine der glänzendsten Darstellungen der Madame Unzelmann zu sein. Den Reiz ihrer Gestalt, die Eleganz ihrer Bewegungen, den Flammenblick ihres schönen, sprechenden Auges, den Zauber ihrer reinen, zwar etwas feierlichen, aber von aller Ziererei entfernten Deklamation, die glücklichste Berechnung und Vertheilung des Affekts, alles das sah und hörte man nie schöner als heute. Wir behalten uns eine umständliche Zergliederung ihrer vortreflichen Darstellung vor und heben jezt nur zwei hervorstechende Züge heraus. Einer betrift eine Pantomime des Erschreckens und der andere, eine Mahlerei des Tons, die beide von außerordentlicher Wirkung waren; die Pantomime, als Sidonia den Gregorius, der ihr seine Liebe antrug, unwillig verläßt und dieser ihr, Schwester Seraphine, nachruft; die Mahlerei des Tons, als Sidonia im dritten Akte den Gregorius mit dem bloßen Namen, Kassandra, zu Boden schlägt. Jolanda, die Gemahlin des Hugo's, ein sanftes, gutes, liebevolles Weib, ganz Hingebung ganz Zärtlichkeit, nur stärker liebend, wenn der Gatte sie kalt und fremde begegnet, vergebend, wenn er sie beleidigt und eine eben so gute Mutter als sie eine treue Gattinn ist; wer kann dies alles wahrer und schöner darstellen als Madame Fleck? Der unbeschreiblich sanfte Blick ihres Auges, ihre melodisch süße Stimme und ihre zarte Gestalt, die wir die Gestalt der Unschuld nennen möchten, gewinnen ihr alle Herzen. Nur Hugo, Herzog von Modena konnte einem solchen Weibe gram werden. Herr Fleck stellte diese äußerst schwierige Rolle dar und gab besonders in dem ersten Akte uns wiederum einen anschaulichen Beweis von der Fülle seiner Ideen, der Kühnheit seiner Übergänge, der mannigfaltigen Abstufung seiner Töne, dem immer regen Wechsel seiner Mienen und der lebhaften Mahlerei seiner Gesten. Über den Herrn Berger, der nach unsrer Empfindung den Abt Gregorius mit vieler Wahrheit darstellte, haben wir in und außer dem Paterre die widersprechendsten Urtheile gehört; dieser fand die Zeichnung des wollüstigen, tückischen Pfaffen zu dreist, jener zu zahm, diesem war er nicht geschmeidig, jenem nicht scheinheilig genug; der eine meinte, ein Pfaffe, der so wenig seine Begierde verbergen könne, müsse einen äußern Anstrich davon haben, der andere dagegen, auch mit der Hölle im Busen müsse er nur immer einen Heiligenschein von sich werfen. Wahrlich, der Schauspieler, der alle Sinnen, alle Forderungen befriedigen soll, ist fast eben so übel dran, als der Dramaturg, an den die lächerlichsten Prätensionen gemacht werden. Wir kennen Schauspieler, die nicht zufrieden sind, daß man die paar guten Eigenschaften, die sie wirklich besitzen, laut anerkennt, und alle ihre Gebrechen und Untugenden gern verschweigt, sondern sie wollen alles an sich gelobet und gepriesen wissen, oder der Dramaturg ist in ihren Augen ein elender Stümper, der die Originalität ihrer Talente und die Rarität ihrer Kunst nicht zu begreifen im Stande sei. Sie klagen über Partheilichkeit, wenn man andere neben ihnen lobt; man soll ihre Anlagen, Genie, ihre Routine, Studium, ihre Grimassen, Ausdruck nennen; man soll Anstand sehen, wo keiner ist, Wahrheit erkennen, wo nur Karikatur war und einen Cäsar bewundern, wo nur ein zusammengeflickter Lumpenkönig erschien. Zum Glück ist das Häuflein derer, die in ihrem leeren Kopf nichts als diesen insolenten Dünkel besitzen, ziemlich klein, sie würden in jedem andern Verhältniß eben so schlecht figuriren und eben so anmaßend sein; für sie schreiben wir nicht. Wir dürfen es übrigens nicht noch einmal wiederholen, daß wir unsere Meinung für kein Evangelium ausgeben, aber wir sagen sie dreist hin, weil wir davon überzeugt sind, wir werden scapham, scapham nennen, aber nur in dem Ton der Urbanität, den wir den Geweihten einer noch lange nicht genug geachteten Kunst, einem gesitteten Publikum und uns selbst schuldig sind. Dürften wir nach einer besondern Belohnung geizen, so wäre es gerade die, daß Schauspieler von Kopf und Studium, wie Ifland und Fleck, uns den reichen Schatz ihrer Erfahrungen nicht vorenthalten und unsere Urtheile, wo es nöthig ist, berichtigen möchten.
Nationaltheater: Zauberin Sidonia, Die (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/50.
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