Wenn ein Komponist 40 Jahre seine Kunst geübt, selbige so fleißig und in so mannigfaltigen Gestalten getrieben hat, als Hr. Kapelmeister Reichardt; wenn man dabei so mancherlei an so verschiedenen Orten und Ländern gehört und verglichen hat, als es diesem Tondichter glücklicherweise geworden; wenn man endlich feuriges Genie, Gefühl, und litterarische Kenntnisse damit verbindet, so muß dieses ein Resultat von sichern Erfahrungen geben, und eine große Zuversicht, mit welcher man sein Kunstwerk vor das Publikum aufstellt. Ein solcher Komponist bedarf keines Tonwerkzeugs für sich zum Versuch. Seine Partitur entsteht ohne alle andere Hülfsmittel als Papier und Dinte, und er schreibt dann mit seiner sichern Feder, hört sein Werk um sich tönen, und denkt sich dabei sogleich die einzelnen Tänzer und Virtuosen mit ihren hervortretenden Partien, so wie das ganze Orchester, und schafft dann so ein Werk wie der Taucher. Ueber solch ein Werk nach einer einzigen Vorstellung zu urtheilen, ist nicht allein sehr schwer, sondern sogar unmöglich. Das Orchester hat schwer zu überwindende Sachen glücklich überwunden. Z. B. 5. Olen. (Quintolen) Aplikaturen für die Violinen bis dreigestrichen a. und dergleichen mehr Im ersten Akt selbst ist eine Art Kälte, welche die Ouverture und die Scene des Lorenzo: Sie ist fort, ausgenommen, den Zuhörer wenig unterhält. Darum muß auch Referent sagen, hat ihn dieser Akt nicht allein nicht erwärmt, sondern außer benanntem hat er auch nichts ausgezeichnetes in jenem bei der ersten Vorstellung bemerkt. Dagegen ist der zweite Akt um so reichhaltiger. Gleich die erste Scene. Dann die musikalische Begleitung bei dem Vorüberschweben der Erscheinungen der Fata Morgana. Die darauf folgende Scene des Herzogs nebst dem Duett der Liebenden. Die Arie der Claudia: Sie liebt, in ihrer Instrumentirung. Das Quartett; Mit der Wahrheit vollem Laut, und endlich das ganze Finale des zweiten Akts. Mit ganz besonderer Wirkung sind in dieser Oper die Baß-Posaunen genutzt, und auch gut ausgeführt worden. Beim ersten Akt waren auch die Blasinstrumente des Orchesters nicht ganz in reiner Stimmung, aber beim zweiten Akt war alles besser und rein. Die Oboe- und Clarinettpartie wurde meisterhaft, nebst der ersten Hornpartie, und die übrigen Blasinstrumente sehr gut ausgeführt. Die Streichinstrumente waren noch nicht ganz so glatt, wie man das brave Orchester sonst zu hören gewohnt ist, und welches bei einer zweiten Vorstellung gewiß statt finden wird. Denn eine Vorstellung vor’s Publikum thut mehr als sechs Proben. Die Dekoration bei den Erscheinungen der Fata Morgana entzückte das Publikum, so wie die Tänze, deren nicht zu viel sind. Referent hat für die Balletmusik Reichardt’s und dessen Opern, Andromeda, Protesilaos, Brenno, immer eine besondre Vorliebe gehabt, aber die Ballets dieser Oper scheinen ihm nicht so glücklich erfunden, wenn sie nicht etwa eingelegt und nicht von Reichardt sind. Von den Sängern und der übrigen theatralischen Darstellung nach der zweiten Vorstellung. J. C. F. R.
Nationaltheater: Taucher, Der (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/534.
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