- Da sonst sich bei der ganzen Vorstellung eben nicht viel merkwürdiges fand, so mag dagegen etwas über das heutige Declamatorium der Madame Bürger gesagt werden. / Großstädter haben in der Regel wenig poetischen Sinn, unter ihnen vielleicht die Berliner den wenigsten. Denn die Hogarthsche Schönheitslinie deren häufiger Anblick nach Einigen in die Gemüthsconstruktion übergehen soll, ist in unsrer Umgebung (außer den Thoren) verzweifelt selten, dagegen mögen wohl die geometrischen Straßen zu einem Messungssinn beitragen, der der Dichtung abhold macht. Hier ist also die Speculation mit herzusagenden Gedichten nicht recht an ihrem Platz, und man hat sie auch der Madame Bürger widerrathen. Sie schloß indessen von dem in Dresden erhaltnen Beifall auf das was hier zu hoffen sein und führte ihr Declamatorium aus. / An Beifall hat es ihr nun auch wohl nicht ganz gefehlt, denn man klatschte bei mehreren einzelnen Sachen; doch an zahlreichem Zuspruch, was aber freilich Nebenursachen hatte. Die Stimmen sind nicht gleich. In so fern das Verdienst der Declamation darinn besteht, das Gedicht rhetorisch richtig, und möglichst mit Leben vorzutragen, gesteht man wohl Madame Bürger Nachdenken über ihren Gegenstand, genaues Gefühl und Talent ziemlich allgemein zu. Man hat aber wider ihre Sprache manches einzuwenden. Einige finden das Organ nicht biegsam genug, andere nennen ihren Ausdruck Manierirung, andre stört das Fremdartige in ihrem Dialekt. Einige sind auch mit der Auswahl der Sachen nicht zufrieden, und meinen: nicht alles in ihnen eigne sich gut in Aufnahme in ein weibliches Gemüth, auch selbst der Taucher sei zu rauh, ob er gleich sonst am meisten gefiel. Von dem allen mag etwas wahr, etwas nicht wahr seyn; doch mit einem Wort, für ein solches Declamatorium ist Berlin nicht der Ort, wenigstens wär es nur in Familienzirkeln räthlich.
Nationaltheater: Deklamatorium (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/625.
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