Am 10. Januar wurde zum erstenmal gegeben, Palmira, ein heroisch komisches Singspiel nach dem Italienischen, mit Musik von Salieri. Der Wettstreit von drei Fürsten um den Besitz einer schönen Prinzessinn, die demjenigen unter ihnen zu Theil werden soll, welcher den Feuerspeienden und Menschenfressenden Drachen, der ein Schrekken des ganzen Reichs ist, erlegen wird, könnte wohl einen brauchbaren Stof zu einem Singspiel, einen schicklichen Text zu einer Musik abgeben, wenn er gehörig behandelt würde. Aber freilich müßte denn alles ganz anders sein, als die wirkliche Behandlung des gegebenen Stofs in dem vorliegenden Singspiel ist. Abgeschmackt und langweilig waren freilich größtentheils, wo nicht alle, die aus dem Italienischen übersetzten Singspiele, welche bisher auf unsrer Bühne das geistreiche Publikum unterhalten haben, aber sie sind himmlisch, entzükkend in Vergleichung mit der Palmira. So elend, so unter aller Kritik! wie war es möglich, daß die Direction diesen nichtswürdigen Plunder herbeihohlen, und mehrere tausend Thaler darauf verwenden konnte, um ihn die lächerliche Figur einer an allen Gliedern verbogenen und gelähmten, monströsen und ekelhaften Mißgeburt in einem prächtigen, königlichen Gewande gekleidet, vor aller Augen spielen zu lassen. Selbst dann, wenn die Musik dazu noch so vortreflich gewesen wäre, würde — wenigstens der Aufwand, mit welchem dies Stück gegeben worden ist, nicht zu rechtfertigen sein. Aber für mein Ohr und wie ich von vielen fachkundigen und geschmackvollen Zuhörern vernahm, auch für ihr Ohr, hatte der große Salieri diesmal wenig Anziehendes und Imponirendes geliefert. Indeß habe ich einen eigenen Genuß bei Anschauung dieses Stücks gehabt, einen Genuß so schön, daß ich alles zurücknehmen möchte, was ich Böses der Palmira nachgeredet habe. Ich bin ihr Dankbarkeit schuldig; sie rief plötzlich die lebhafteste Erinnerung an meine frühste Jugendzeit, wo ich zum erstenmal in einem ärmlichen Wirthsause einer kleinen Stadt die Komödie von dem Prinzen Jasen von Castilien, der die schöne Prinzessinn Medea von Arabien durch Erlegung eines feuerspeienden Drachen erkämpfte, mit Marionetten vorstellen sah. Ich konnte von diesem Eindruck vielleicht so viel wichtige Wirkungen auf mein Gemüth und Herz anführen, als Göthens Wilhelm Meister von dem Eindruck, den die erste Marionetten-Komödie auf ihn machte, wenn ich es nur so gut zu erzählen verstände.
Nationaltheater: Palmira, Prinzessin von Persien (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/731.
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