Ueber Ion***.
Aus einem Briefe an S. in Breslau.
Ich schreibe Ihnen, theurer
Freund, meinem Versprechen gemäß, immer sehr gern das Neue und Merkwürdige von
unserer Bühne, und Sie wissen, daß es mir an Stoff dazu seit der Einweihung des
neuen Schauspielhauses nicht gefehlt hat, aber niemals habe ich mit solcher
Lust geeilt, mein Versprechen zu erfüllen, als heute, und auch ohne Versprechen
würde ich dem Drange nicht widerstehen können, mich Ihnen mitzutheilen. Ion ist
auf unserer Bühne erschienen. Sie haben ohne Zweifel schon manches über ihn
gelesen, denn dafür sorgt die Zeitung für die elegante Welt; auch davon werden
Sie vielleicht gehört haben, daß er vor Böttchers Augen nicht Gnade gefunden,
und daß der gelehrte Mann im heiligen Eifer ihm eine Kritik zugedacht haben
soll, die – wer wollte nicht an Böttcher glauben – seinen Unwerth ohnfehlbar
darthun muß. Doch, was Sie gewiß mit Liebe gelesen und verstanden haben, sind
die Zeilen, die Göthe über ihn in dem Maystücke des Modejournals geschrieben
hat, aber auch, was er nicht gesagt und kaum angedeutet hat, kann Ihnen nicht
entgangen seyn. Ein Lob aus diesem Munde durfte allerdings eine gute Meynung für
Ion im Voraus erwecken, und ich gestehe Ihnen gern, daß ich mit Vorliebe seine
Erscheinung erwartete, aber vielleicht eben darum einen mehr als gewöhnlich
empfänglichen Sinn für das Schöne in das Schauspielhaus mitbrachte. Meine
Erwartung wurde reichlich belohnt; ich habe einen seltnen Genuß gehabt, den ich
Ihnen in seiner ganzen Fülle mittheilen möchte, wenn es mir möglich wäre, Ihnen
ein treues Gemälde meiner Empfindungen während der Anschauung dieses Kunstwerks
zu geben. Es war nicht die Rührung, die jede lebhafte Darstellung einer, dem
gemeinen Leben nachgebildeten, ansprechenden Situation so leicht erregen kann,
nicht der Rausch eines von einem interessanten Gemählde erhitzten Geblüts,
nicht der flüchtige Enthusiasmus, der das Ausserordentliche einer kühnen That,
die gewaltige Explosion einer scheinbaren Charaktergröße hervorbringt, und oft
in dem nämlichen Augenblick wieder vernichtet, es war ein Ruhe voll glühender
Andacht, eine tiefe innige Empfindung des Schönen in allen seinen Gestalten,
eine beharrliche Begeisterung, und, indem das Herz von der Kraft der Dichtung
erwärmt, sich dem reinmenschlichen wohlwollend aufschloß, wallte in dem Gemüth
eine Sehnsucht nach dem Höhern und Unendlichen, nach Befriedigung strebend, die
ihm die wunderbare Erscheinung des Göttlichen völlig gewährt. Eine Stimmung wie
diese, war freylich nicht geschickt der Kritik Raum zu geben, aber doch sicher
die beste oder vielmehr die einzige, um hinterher die besonnene Prüfung auf die
richtige Ansicht und ihr wahres Maaß und Ziel zu führen. Wen im Augenblicke der
Anschauung ein Kunstwerk nicht ganz ergreift und erwärmt, der mag über dessen technische
Zusammensetzung und über diese und jene Einzelnheit recht klug urtheilen, aber über
den Geist und das Wesen desselben wird er eben nicht viel bedeutendes zu sagen
wissen. Freylich wird Ion den Kritikern von dieser gewöhnlichen Art nicht
entgehen, und sie werden in allen ihren Manieren auftreten.
Ihnen ist bekannt, daß man schon diesen Ion mit dem des
Euripides zu vergleichen, und so vielleicht herauszubringen gesucht hat, daß er
entweder eine bloße Nachahmung, oder ein verfehltes, mißrathnes Projekt sey.
Kunstrichtern dieser Art hat indeß Göthe schon in dem erwähnten Stück des
Modejournals den Standpunkt angewiesen, auf dem sie sich erst orientiren müssen,
wenn die Vergleichung des Alten mit dem Neuen nicht eine ganz leere Schulübung
seyn soll. Für diejenigen dagegen, welche dem griechischen Mythos und dem
Antiken durchaus keine Stelle auf unserer Bühne verstatten wollen, und sie gern
überhaupt aus der modernen Dichtung verdrängen möchten, die Helm und Schwerdt
und Spieß des rohen Mittelalters nur erschüttern und begreifen, oder nur im
sogenannten bürgerlichen Trauerspiel gerührt werden können, würde jedes Wort
der Zurechtweisung überflüssig seyn. Vergeblich würde man ihnen sagen, daß im
dem griechischen Mythos das menschliche Gemüth rein und ganz sich ausspricht,
und das alles Wollen und Wünschen, Ahnen und Hoffen, Widerstreben und Beginnen
in dem Menschen, wie er ewig ist und bleiben wird, hier in den bestimmtesten
Bildern redet. Gerade in diesem Ion erscheint der wunderbare Mythos in seiner
lieblichsten Gestalt. Ion, eine Frucht der Liebe Apolls zu Creusen wird von
seiner Mutter ausgesetzt, und wunderbar errettet am Tempel zu Delphi gefunden,
wo er im heiligen Dienst seines Gottes bis zu seinem sechzehnten Jahre aufwächst.
Creusa war indeß mit dem Xuthus vermählt, aber die rächende Gottheit bestraft
ihre unmütterliche That an dem erstgebohrnen Sohn mit einer kinderlosen Ehe.
Beide gehen das Delphische Orakel über ihr Schicksal zu befragen. Xuthus, den
Sohn wünschend, deutet den Spruch des Orakels zu rasch und glaubt in Ion den
wirklichen Sohn, die Frucht einer ehemaligen heimlichen Umarmung zu finden.
Creusa, jetzt zwiefach gefoltert, da ihr Gemahl einen Sohn besitzt, der nicht
der ihrige, nicht aus dem Stamm der Erechtiden ist, wird von dem alten eisernen
Freunde des Erechtheus Phorbas beredet, den Knaben durch Gift aus dem Wege zu räumen.
Aber der Gott rettet durch ein Wunder den Sohn und in dem frommen harmlosen Ion
erwacht jetzt auf einmal der Zorn über diesen Frevel, und mit rächendem Pfeil
verfolgt er die von allen Furien des Gewissens geplagte Creusa. Doch eben der
Gott, der ihm das Leben rettete, bewahrt ihn durch die Stimme seiner Priesterin
vor dem Verbrechen des Muttermordes, und in dem Augenblick, da ihm die
Priesterin das Behältniß, worin sie das ausgesetzte Kind fand, zurückgiebt, und
er die ihm mitgegebene Kostbarkeiten mit tiefer Empfindung betrachtet, erkennt
Creusa an diesen Zeichen den eigenen Sohn. Der edle Xuthus liebt ihn darum zwar
nicht minder, aber dort ein Orakelspruch, hier diese Zeichen und immer noch die
Ungewißheit des Schicksals, um dessentwillen beide das Orakel zu fragen kamen,
– nur die göttliche Erscheinung selbst kann hier Aufschluß und Befriedigung
geben. Ion, von der frommen Ueberzeugung begeistert, daß Apoll, wenn er sein
Vater sey, es ihm durch ein untrügliches Zeichen kund thun werde, sendet sein
Gebet zu ihm hinauf, und der Gott erscheint in seiner Glorie, erkennt den Ion
als seinen Sohn, verheißt dem Xuthus mit Creusen den Achäus und ewigen Ruhm
seines Stammes.
*** Eingesandt
Spricht nicht ächte Poesie aus dieser Fabel und dieser Composition, wovon ich Ihnen nur eine ganz oberflächliche Skizze gegeben habe; unendlich viel schönes Einzelnes und die zarte innige Verbindung alles dieses Einzelnen mag Ihnen die vollständige Kritik eines geistvollern Beschauers darlegen. Aber welche Simplicität herrscht in diesem Schauspiel, welche Enthaltsamkeit von allen, selbst schönen Auswüchsen, und doch welche Mannigfaltigkeit und Fülle in der gesetzmäßigen Einheit; wie frei ist es von jenem gewaltsamen Streben nach Effekt und wie groß und erschütternd sind die einzelnen Momente! Ich hebe nur einige heraus, die Flucht der von der Furie des Gewissens gejagten Creusa, wo schon der veränderte Mechanismus des Silbermaßes [!] die Situation so sprechend ausdrückt; die rasche Verfolgung des Ion und dann die Erkennungsscene zwischen beiden. Kampf und Ruhe, Menschheit und Schicksal herrschen im schönen Wechsel und in der freiesten Verbindung durch die ganze Handlung. Die Sprache ist überall dem Stoff und der Würde des Gegenstandes angemessen, ihr rythmischer Bau ist nie willkührlich, sie hat den Zauber des Wohllautes ohne überladenen Schmuck, Gedankenfülle ohne den Auswuchs schimmernder Sentenzen. Ueberall hört man den Dichter, den die griechische Muse gepflegt und gebildet hat, der heimischer in Athen als in seinem Vaterlande ist, und das möchte wohl auch der hauptsächlichste Vorwurf seyn, den das minder-kultivirte Publikum seinem Ion bis jetzt gemacht hat. Es versteht sich, daß von allen denen, die nur in leerer Passivität Zerstörung und Unterhaltung suchen, gar nicht die Rede seyn kann. Und dieses Schauspiel wurde nun mit einem Ensemble und einer Vollkommenheit dargestellt, wie sie in dieser Gattung auf unsrer Bühne und gewiß auf keiner Bühne jemals gesehen worden ist. Das Kostüm der auftretenden Personen war treu und geschmackvoll, und, wo es hingehörte, prächtig. Die Verzierung der Bühne angemessen und gewählt; der grünende Lorbeer, in den Daphne verwandelt worden, verrieth noch die ehemalige Gestalt, und der erhabene Tempel Apolls gewährte einen imposanten Anblick. Alles führte uns in eine neue Welt und verkündete uns die Bekanntschaft mit edleren Gestalten, unter denen Ion vor allen hervorleuchtete und gleich bei seiner ersten Erscheinung durch seine liebliche Anmuth mit ihm befreundete. Nie hat Madame Unzelmann ihr Genie und ihre Künstlergröße so untrüglich documentirt als durch diese Darstellung, ein Fest für die Phantasie und das Herz, ein Ideal, vor dem die Bewunderung anbetet und die Liebe huldigt. Ihre gracieuse Gestalt, der bekannte Zauber ihrer Accente, die Anmuth ihrer Bewegungen mußte schon hinreichen, uns ein schönes und treues Bild von Ion zu geben, und jedermann würde in dieser Vereinigung auf dem ersten Blick den Götterknaben erkannt haben. Aber eine geistvolle Künstlerin wie Madame Unzelmann, begnügt sich nicht damit, die Worte des Dichters, wie sie daliegen, mit Wohllaut und Präzision auszusprechen und mit anständigen, glänzenden Gesten zu begleiten; auch was der Dichter nicht so handgreiflich ausdrückte, kaum andeuten kann, entsiegelt sich ihrem Geist und erscheint in himmlischer Harmonie vor unsern Augen. Die zarte Verschmelzung aller Empfindungen, die Einheit in der höchsten Mannigfaltigkeit, das kindliche Gemüth des frommen Knaben und der Stolz des Göttersohnes, die rasche menschliche Leidenschaft und die ruhige Würde der höhern Macht, alles gab sie uns in idealischer Vollendung. Man ist es von dieser Künstlerin schon gewohnt, daß sie uns in jeder neuen Rolle mit neuen Zügen ihres Genies überrascht, aber bei ihrer Darstellung des Ion wurde auch die kühnste Erwartung übertroffen. Ich kann Ihnen nicht alle diese Züge herausheben, aber auch von dem einen, wo Ion im zweiten Akt von dem Tempel Apolls Abschied nimmt, und in dieser wehmüthigen Stimmung dem Xuthus seine innersten Bitten und Wünsche anvertraut, sollte ich Ihnen lieber kein Wort sagen, denn wie sollte ich Ihnen das Zarte und Kindliche des Ausdrucks in diesen Bitten, diese Welt von Tönen in diesem Abschied diese himmlische Musik ihrer Accente beschreiben. Dem Dichter sey es überlassen, die Künstlerin, die seinem Ion das schöne Leben gab, würdiger zu preisen. Madame Meyer war Creusa. Sie kennen Ihre Talente für dieses Fach, den Reichthum ihrer dem Antiken nachgebildeten Stellungen und ihre dazu so geeignete schöne Gestalt; Sie wissen, wie gern sie sich auf dem hohen Kothurn bewegt und ihre Kräfte übt. Bei solchem Talent und solcher Liebe mußte Creusa trefflich dargestellt werden, und ich gestehe Ihnen, daß ich sie für ihre vorzüglichste Rolle in diesem Fache halte. Meisterhaft war der Ausdruck der Angst und des Schreckens in ihre Geberde und Bewegungen, wie sie von ihrem Gewissen gejagt und vom Ion verfolgt über die Bühne flieht, und mit tiefer Empfindung trug sie den langen Monolog im vierten Akt vor, der, um ihn von Anfang bis zu Ende mit aller Wahrheit des Ausdrucks und doch mit Anmuth des Tons durchzuführen, wohl eine zu schwere Aufgabe seyn dürfte. – Was Iffland in der Darstellung des edlen, männlichen Xuthus leistet, wie gehalten und kunstreich sein geistvolles Spiel, wie sicher und kraftvoll seine Deklamation, wie königlich sein Anstand und wie vollendet, mit einem Wort, das Ganze war, was er gab, das darf ich Ihnen, der Sie so vertraut mit seiner großen Kunst sind, nicht sagen. Aber jedem, der noch an seinem Beruf zum Priester Melpomenens hartnäckig zweifelt, möchte ich zurufen, den Xuthus von ihm zu sehen, und wenn er dann noch in seinem Zweifel beharren will, meinethalben an die ganze Kunst zu zweifeln. Von Böheim, der den Phorbas, der Madame Böheim, die die Pythia, und Mattausch, der den Apoll darstellt, sage ich Ihnen nicht darum wenig, weil sich nur wenig von ihnen sagen ließe, sondern weil ich, da ich doch in ein näheres Detail des Spiels nicht gehen kann und will, ihr würdigstes Lob schon dadurch hinlänglich ausgesprochen habe, daß ich die Darstellung des Stücks im allgemeinen für die vollkommenste halte, die jemals auf unsrer Bühne gesehen worden ist, und überall, wo ich ein Urtheil über diesen Gegenstand gehört, habe ich meine Meinung bestätigt gefunden. Nur eins noch; hätten wir ein Publikum voll Kunstsinn, voll rascher, lebendiger Empfänglichkeit für das wahre Schöne, so hätte auch die Menge schöner Formen und Gruppen, die durch das vollkommene Ensemble in der Darstellung des Ion hervorgebracht wurden, von allen Seiten den lautesten Zuruf des Beifalls erhalten müssen; indeß, lassen Sie uns vor der Hand zufrieden mit dem seyn, was wir wirklich, zu unsrer Ueberraschung erfahren haben, mit diesem Antheil, den die gemischte Menge fortdauernd an dem Gang des Stücks nahm, und lassen Sie uns bald mehr schöne Schauspiele dieser Art und so gelungene Darstellungen hoffen; der Zustand unserer Bühne, die großen Talente und die Bildung mehrerer ihrer Mitglieder, und die Weisheit ihres Vorstehers berechtigt uns zu den schönsten Erwartungen.
Ueber die Darstellung des Ion
auf dem Berliner Theater*. (Berlin
im Juny) Das neue Schauspiel Ion, das man schon zu Anfang des Jahres in Weimar
mit so vielem Beifall sah, ist, nun am 15ten und 16ten May auch auf unsrer Bühne
gegeben worden, und sicher mit nicht geringerem Erfolg als dort. Wahrhaft
erfreulich war es, einmal alle Mitspielenden mit solcher Uebereinstimmung vom
Geiste des Ganzen ergriffen zu sehn. Der gute Wille, der Ernst um die Sache und
emsiges Studium waren überall unverkennbar: die Verse wurden richtig deklamirt
und nach ihren Arten deutlich unterschieden, meistentheils war der Vortrag
sogar vortreflich und kunstgemäß; die Gebehrden waren im Ganzen gut gehalten,
dem Sinn der Handlung angemessen und dem Charakter der Verse getreu; und mit
lobenswürdiger Sorgfalt hatte die Direkzion dahin gestrebt, daß auch das Außenwerk,
Kostum und Dekorazion, nicht nur der Sache nicht schadete, wie das gemeiniglich
der Fall ist, sondern soviel ihr für den Moment zu erreichen möglich war, den
Gang der Handlung herauszuheben diente. Die beiden Hauptrollen des Ion und der
Kreusa waren, jene durch Madame Unzelmann, diese durch Mad. Meyer so glücklich
besetzt, wie der zärtlichste Geschmack es sich nur wünschen mochte; aber auch
die andern Rollen wurden mit ungewöhnlichem Glück durchgeführt, und selbst Hrn.
Iffland schienen die goldnen Worte seines Textes so ergriffen zu haben, daß er
besonders bei der zweiten Aufführung mit einem Meistersinn spielte, den man,
wenigstens nach seinem Pygmalion zu urtheilen, im antiken Kostum ihm nicht
zugetraut hätte. Kurz, der Geist des Gedichtes wurde durch das gesammte Spiel
so verkörpert, und machte eine so überraschende und mächtige Erscheinung, daß
wenn dieses Stück so glücklich gewesen wäre, Nachfolger hervorzurufen, wir ohne
Zweifel von ihm eine neue Epoche für unsre Bühne datiren dürften.
Schon die Annäherung an die
antike Strenge im Versbau mußte einen vortheilhaften Einfluß auf die
theatralische Darstellung gewinnen, da sie alle die kleinlichen Individualitäten
des Humors aus dem Spiele verscheucht, welche der Inhalt hier gänzlich verschmäht.
Dann wurde durch die, wenn ich so sagen darf, plastische Gediegenheit in der
Behandlung, und die noch bis in die Aeußerlichkeiten behauptete Einheit, (die
auf unsrer Bühne so unverkennbar ist, da Göthe’s Iphigenia hier noch nicht
aufgeführt worden,) die Aufmerksamkeit der Zuhörer zugleich erleichtert und
festgehalten. Diese Ruhe der Bewegung, welche der antike Geist in der Form
(denn ganz konnte die alte Gestaltung der Tragödie bei der jetzigen Verfassung
der Bühne wohl noch nicht behauptet werden) gewährte, lies das durchgreifende
Motiv des Gedichtes, dieses beiderseitige Jagen der Sehnsucht ohne sich zu
finden, bis in der letzten Entwickelung sie sich gleichsam in einander
niedertauchet und so ihr Spiel endet, deutlicher hervortreten und tiefer ins
Gemüth dringen.
Was die Anordnung der Szenen
und die Fabel betrift, so kann ich mich auf den Aufsatz darüber in Num. 41.
dieser Zeitung beziehen: denn freilich gehört die letzte nicht zu den bekanntesten.
Auch gab es wohl unter den Zuschauern einige, obgleich nur wenige, aus den
Klassen, die sich vorzugsweise die Gebildeten nennen, welche keinen Anstand
nahmen dem Stück vorzuwerfen, daß sie die Handlung nicht verständen. Damit
konnten sie doch nichts Andres meinen, als: entweder daß ihnen die Fabel selbst
unbekannt sei, (was jedoch auch nicht wohl dies Nichtverstehn bewirken konnte,
indem sie so ausführlich im Stück erzählt wird, daß man sagen kann, das Gedicht
bescheide sich ordentlich nach dem Bedürfnis der Unkundigen); oder daß die bei
solchem Stoffe unvermeidliche Anspielung auf Mythologie sie störe. Allein wenn
Bildung nicht blos in Erlernung irgend eines Geschäftes oder in der müßigen
Fertigkeit zu leerem Raisonniren bestehn soll, sondern vielmehr in Entwickelung
der Phantasie, des Gefühls und der Leidenschaft, und überhaupt eines lebendigen
Sinnes für Natur und Welt: so darf man von dem, der Anspruch auf solche macht,
gewiß vor allem erwarten, daß er in der Mythologie, diesem unvergänglichen Kodex
der Phantasie und dem Urquell aller Menschenbildung, wenigstens nicht ganz
unbewandert sei. Und wenn es doch solche Leute giebt, so werden sie sich
bescheiden müssen, daß, so lange ihnen ein solcher Maaßstab fehlt, kein
Kunstwerk eben nöthig hat, für sie berechnet zu seyn.
Aus dem oben angegebnen
Standpunkt des Gedichts: »der Hinneigung zum Romantischen im Inhalt bei
durchgehender Festhaltung des Antiken in der Behandlung« ergiebt sich für die
Akzion die Forderung, daß sie eben so das Mittel halte zwischen der modernen
kleinlichen Individualisirung des Ausdrucks und der antiken Großartigkeit in
den Gebehrden; und man muß bekennen, daß unsre Schauspieler im Ganzen dies
Mittel in ihrem Spiel sehr glücklich getroffen haben. Wenn auch die
leidenschaftlicheren Auftritte immer noch ein wenig zu unklar und unruhig
ausfielen, und überhaupt des Hin- und Hergehens noch zu viel war, so lag die
Schuld meist in der mangelhaften Figur unsrer Bühne, die gegen die Tiefe, die
sie (ursprünglich, um der anmaßenden Ignoranz der Theatermahler zu fröhnen,)
bietet, niemals die hinlängliche Breite zu der ächten Entwickelung einer Szene
im Profil gewährt. Wäre diese nöthige Breite des Raums da gewesen, so hätte z.
B. die orgische Flucht Kreusens sich mehr, wenn ich so sagen darf, aus einem Stück
entfaltet und das vortrefliche Spiel der Mad. Meyer wäre von viel größerer und
klarerer Wirkung ausgefallen, indem sie dann nicht genöthigt gewesen wäre, es
durch so viele Rückwendungen zu zerstückeln: da hingegen ihr jetzt auf alle
Weise Lob gebührt für die große Geschicklichkeit, womit sie sich aus dieser
Verlegenheit zog. Eben so hätte bei größerer Breite der Bühne die Szene überhaupt
nicht so großer Tiefe bedurft, und so wäre das Getrippele vom Tempel nach dem
Proszenium und zurück ziemlich vermindert worden. Daß übrigens die Gewohnheit
auf einem schmalen und tiefen Raum zu agiren, die Schauspieler überhaupt zu
einem unruhigen Spiel verwöhnt hat, ist ein Umstand, den man noch lange auch
bei den ersten Schauspielern wird in Anschlag bringen müssen. So hat im vierten
Akt, da Ion vom Parnassus zurückkommt und die Kreusa am Altar findet, Mad.
Unzelmann sich zu viel Bewegungen erlaubt. Mit wenigen Intervallen, nur um Zeit
für ihre Rede zu gewinnen, hätte sie sollen in derselbigen Richtung von dem Ort
ihrer Erscheinung nach dem Lorbeerbaum hinschreiten, dort ohne weitere Veränderung
verharren, bei den Worten:
»Ich reiße dich mit stärkerm
Arm herab.«
nur Eine unentschiedne
Bewegung vorwärts machen, und diese sogleich bei den Worten:
»Nun wohl: auch dort ereilet
dich mein Pfeil.«
durch einen entschloßnen Rückschritt
mit dem rechten Fuß, um sich in die Stellung zum Abschießen zu versetzen,
wieder zurücknehmen.
Uebrigens aber konnte man
nichts Vortrefflicheres verlangen, als das Spiel dieser beiden Frauen war. Der
göttliche Ursprung, die heilige Reinheit und das jugendliche Selbstgefühl im
Ion; der Stolz der Königin; die unbefriedigte Gattin und das heimlich gedrängte
Weib in der Kreusa, dann der mächtige Zug der Natur zu einander in beiden, wurde
von jeder gleich glücklich, gleich bescheiden und ohne Affektazion dargestellt
und durchweg festgehalten. Doch die schönsten Siege in diesem Spiel, und wie
die Kränze des Festes waren, für Mad. Meyer jener so schwierige Monolog am
Altar, den sie mit ungemeiner Kunst und Sinnigkeit durchführte, so wie die
letzte Aussöhnung mit dem Gemahl, worin sie die zweifelnde Scheu mit ungemeiner
Schönheit und Würde ausdrückte; für Mad. Unzelmann hingegen Ions erste Erklärung
mit dem Xuthus, der Empfang der Wiege, sein Gebet an Apoll, und die schöne
zuversichtliche Gebehrde bei den Worten des Gottes:
»Drum schau ins Antlitz kühn
mir, wie des Adlers Sohn
Den jungen Fittig gleich der
Sonn’ entgegen schwingt.« und für Beide jene ungemein schöne Gruppe über der
Wiege. Es war so einleuchtend, daß die Wiedergefundnen des freudigen Liebkosens
so wenig satt werden konnten, daß selbst während der ernsten Rede der Pythia
sie sich enthielten, sich zärtlich kosend an einander schmiegen, indem die
Mutter sich über den knieenden Jüngling hinneigte. So wie durch das ganze Stück,
so war besonders bei dieser Stelle die so seltne Erscheinung des einstimmigen
Wetteifers zweier Schauspielerinnen für das Gelingen, dem beobachtenden Künstler
recht erfreulich.
Gegen dieses meisterhafte
Spiel stach das etwas zu gebehrdenreiche und gewaltsame des Phorbas ein wenig
ab. Hr. Böheim benahm sich durchweg, auf der einen Seite wie ein Sklav, von dem
keine Erziehung zu fodern ist, und nicht als ein freier Diener und Vertrauter
in einem Königshause; und andrerseits vergaß er wieder den Abstand zwischen
seiner Gebieterin und ihm, und betrieb die Sache wie seine eigne. In jener
Szene des zweiten Akts, wo er Kreusen zu feindseligen Mitteln beredet, sollte
er, statt dieser unruhigen Heftigkeit und Ungebehrdigkeit, womit er Theilnahme
auszudrücken und zu erregen strebt, und oft nur das Spiel des Mitpartes stört,
vielmehr durch ein stilles ehrerbietiges Verhalten auf einer Stelle in Mitten
der Szene die halb unterdrückte Gemüthsruhe seiner Gebieterin herausheben
helfen. Freilich hebt er mit seiner Beweglichkeit jetzt gegentheils die Würde,
die in der stolzen Sparsamkeit der Gebehrden Kreusens liegt: allein das, glaube
ich, ist hier gerade nicht seine Aufgabe. Doch darf man Hrn. Böheims guten
Willen nicht verkennen; er hatte seine Rolle mit merklichem Fleiß studirt und
gut memorirt. Von den übrigen
Schauspielern, Hrn. Iffland als Xuthus, Hrn. Mattausch als Apollo, Mad. Böheim
als Pythia, kann man versichern, daß sie ihre Stelle recht gut ausfüllten; ja,
bei der zweiten Aufführung deklamirte Hr. Iffland, bis auf einige Mahlerei in
den Adjektiven, sogar vortreflich und seine Gebehrden hatten durchaus viel Würde.
Das einzige ganz lyrische Stück in dem ganzen
Schauspiele, der Hymnus in chorischen Strophen zu Anfange des zweiten Aktes,
welchen Ion, vor dem Tempel an den heiligen Lorbeerbaum gelehnt, dem Apoll zur
Leyer singt, da die Geschichte Kreusens, als die eine Deutung auf seine Lage
darbietet, sein Gemüth zu tiefer Wehmuth bewegt hat, welche mit der Unschuld
seiner Jugend und der gewohnten Frömmigkeit in liebliche Harmonie verschmilzt:
dieser Hymnus war von einer Tonsetzung begleitet, die etwas über den Styl des
Ganzen hinaus ins Ueppige zu gehen schien. Es ist mir nicht gegeben zu
entscheiden, ob es am Vortrage oder in der Komposizion selber lag; allein die
Melodie schien eine zu große Tonleiter zu umfassen und in ihren Modulazionen zu
sehr vom Tone der übrigen Rede ab und in den eines zu entschiednen Gesanges zu
fallen; kurz sie drückte nach meinem Gefühl eine etwas zu zärtliche Rührung
aus, und entbehrte den gehaltnen antiken Ernst, den ich z. B. in Mercelli’s
Canto greco
mehr zu finden glaube.
* Die Zeitung f. d. e. W. rechnet es sich zur Ehre, daß man über dieses
merkwürdige Schauspiel so manches gehaltvolle Wort hier niederlegt; wie denn
schon einige Mal (in Num. 7. u. 41. d. J.), auch zu des Hrn. v. Göthe
Zufriedenheit davon gesprochen worden ist. Man wird wohl thun, insonderheit den
Aufsatz in N. 41., der zunächst über den Inhalt des Stücks sich verbreitet, mit
dem gegenwärtigen in Verbindung zu setzen, gegen dessen Ausdehnung wohl schwerlich
ein gebildeter Leser etwas einzuwenden haben wird, der zu bemerken im Stande
ist, wie viel Lichtvolles, Motivirtes und Gründliches es über eine Kunst enthält,
die der Tempel und Priester wie der Verehrer unzähliche hat, – doch noch unter
uns erst gesucht wird.
Das Kostum war – zum Theil
wohl aus Unkunde des Garderobiers – nicht genau nach dem Weimarschen befolgt.
Madame Meyer hatte ein Kleid, das, weit entfernt antik zu seyn, vielmehr so
aussah, wie man auf Berlins Straßen oft die verfehlte Mode des Tags erblickt;
ihr Schleier war zu schwer, zu dunkel und zu groß. Hrn. Ifflands Mantel war
auch im Zuschnitt verfehlt, und hatte überdem gewisse Schlitzen und Broderien,
wodurch er einer Pferdekappe nicht unähnlich wurde. Der Mantel des Phorbas
hieng gar auf der unrechten Schulter und zwar so verkehrt, daß er beide Arme über
denselben heraus hatte, was ihn vielleicht mit zu jenem rüstigen Gebrauch
derselben verleitet haben mochte. Auch hatte er noch eine Art von grauem
Leibrock, der eher in eine opera buffa gehört hätte: und das Gewand der Pythia
war, statt faltenreich,vielmehr etwas aufgedunsen und mager; und statt des
Einen großen Schleiers, der Kopf, Kinn und Schultern zugleich umhüllen sollte,
trug sie diesen nur auf den Schultern, und hatte dagegen noch ein besondres Läppchen
um den Kopf, das in zwei befransten Zipfeln auf den Schultern herabgelegt war:
ungefähr so wie sonst die Schauspielerinnen nach dem gewöhnlichen Schlendrian
ihre Vermummungen als Nonnen vorzurichten pflegen. Ion hatte einen zwei Mal gegürteten
Leibrock, dessen Mantel war wiederum so verschnitten und so angeheftet, daß er
bei der Vorneigung des Leibes ein wenig eng um die Hüften fiel. Jene doppelte Gürtung
wurde in Weimar wahrscheinlich gewählt, um an der Gestalt der Schauspielerin
den Ausdruck der Weiblichkeit besser zu verbergen. Allein an sich ist sie
unrichtig, und Mad. Unzelmann, die dieses Hülfsmittels nicht bedarf, würde
durch Unterlassung desselben das gewinnen, daß ihr der Leibrock etwas tiefer
auf die Knie fiele, welches allerdings graziöser wäre.
Bei Vorstellungen, die so
sehr wie diese auf plastische Ausbildung und auf eine gewisse Erudizion in der Ausführung
Anspruch machen, hat man das Recht, bis auf das kleinste Detail herab nach
demselben Maaßstab zu urtheilen. Daher erlaube ich mir noch einige Bemerkungen,
ohne den Vorwurf der Kleinfügigkeit zu befürchten.
Ausnehmend gut war Kreusens
erster Eintritt auf die Bühne, da die bloße Umhüllung des Schleiers, dessen
einer Saum über das Haupt geworfen war, sie so bestimmt als Reisende
bezeichnete, und wo das Entschleiern allein schon hinreichend andeutete, daß
sie nun ans Ziel gelangt war. Dieses Kostum des Reisenden hätte man billig auch
an Xuthus erwarten dürfen, der hier vielmehr wie ein Einwohner von Delphi
auftrat. Ich will eben keinen Akzent drauf legen, daß er als Fremdling wohl
Stiefeln hätte tragen können; allein da er nun einmal den Reisehut, der sonst
in den Darstellungen dieser Mythenzeit üblich ist, hier schon wegen der
untragischen Aehnlichkeit mit denen im Parterre vermeiden mußte, so wäre es
sicher zu loben gewesen, wenn er sich dies Mal das Beispiel der Gemahlin hätte
gefallen lassen; um so mehr, da es sonst nicht ohne Einwirkung auf ihn
geblieben ist. Beide nehmlich dürfte man wohl zuweilen daran erinnern, daß die
Kleider zum Bekleiden des Leibes bestimmt sind, und nicht zum Zeitvertreib für
die Hände. Sie wollen nach angenommener Sitte getragen seyn, und eine tragische
Person auf der Bühne darf sich nicht mit Faltenwerfen abgeben. Doch ist dies
keineswegs als ein durchgehender Vorwurf für beide Rollen anzunehmen: er hatte
nur selten Statt, und besonders Mad. Meyer vergütigte ihn durch viele ungemein
schöne und verstandne Attitüden, wie z. B., als im zweiten Akt während der
Insinuazionen des Phorbas sie in sich versunken mit ächt mahlerischer Bedeutung
in Einem Wurf sich ganz in den Schleier einwickelte, so daß nur das Antlitz
sichtbar blieb, so eine Weile unbeweglich blieb, dann in wenig großen Schritten
auf und ab gieng. Allein, so selten es auch vorfiel, hatte es doch außer der
eigenen Unschicklichkeit bei Hrn. Iffland noch die Folge, daß dadurch zuletzt
der Mantel den starken Unterleib zu tief entblößte, der dann, im Profil gesehn,
für den Thessalischen Krieger eine zu mönchische Physiognomie gewann.
So viel Gefangene man auch in
antiken Darstellungen solcher Mythen findet, siehet man sie alle mit den Händen
auf den Rücken geknebelt, und zwar mit Tauen und nicht mit eisernen Fesseln.
Hierdurch hätte man außer der Richtigkeit des Kostums und einer bedeutenderen
Stellung hier noch das gewonnen, daß dem Phorbas manche unnütze Bewegung
erspart worden wäre. Aber außer diesem möchte ich für eine künftige Aufführung
noch vorschlagen, daß man demselben den Mantel abnähme, ehe man ihn gebunden
vorführte. In der Erzählung des Vorfalls, der ihm die Fesselung zuzog, wird
beschrieben, wie er sich beim Mahl geschäftig bewies:
»– geschürzt und rüstig,
Als hätt’ er sich vor Freude
ganz verjüngt.« und da ist ohnehin nicht anzunehmen, daß er den Mantel
umbehalten haben werde.
Es war anständig genug für
das Gefolge der fürstlichen Personen gesorgt – es waren für jede acht dienende
bestellt, und noch acht folgten dem Phorbas mit den Tempelgeschenken –; aber
diese, in ihren kothfarbenen possierlichen Kleidern, sahn zu sehr aus wie aus
der Iphigenia geborgt. Auch wogen für einen solchen Gott die Geschenke zu
leicht in der Hand, und die Gefäße waren nicht geziemend. Es waren schlecht
gerathene Urnen, und nicht Krater, Trink- und Opferschalen, wie man sie in den
Tempeln weihte. So sehr aber auch bei solchen Gelegenheiten die Menge des
Personals den Anstand vermehren mag; so mußten doch zwei Männer mit einer Trage
auf den Schultern, wie man es in Weimar soll angeordnet haben, den Geschenken
selbst mehr Gewicht beilegen, welches hierbei auch nicht zu verachten war.
Ion bekränzt hier die Thüre
mit Lorbeer, die Säulen aber mit Blumen, da doch im Text nur vom Lorbeer die
Rede ist. Dies Bekränzen hält zu lange auf; und man war daher in der zweiten
Aufführung genöthiget, die Eckweiten des Tempels unbekränzt zu lassen. Allein
man thäte besser, künftig die Abkürzung noch weiter zu treiben, und nur die
Mittelweite und die Thüre zu behängen. Es ist oft gut sich mit solchen, an sich
leeren Zeremonien nicht weiter aufzuhalten, als grade zu ihrer Andeutung nöthig
ist. Und warum sind Köcher und Bogen des Ion nicht auf derselben Stelle – zur
Linken der Thüre – hingelehnt oder gehenkt, so daß er sie mit Einem Griff
fassen und sich dadurch das viele Herumtrippeln abkürzen könnte?
Im Anfang des vierten Akts
sitzt Pythia in der Tempelhalle auf einem Stuhl, so daß die wenigsten Zuschauer
sie bemerken. Sie soll aber nur für Kreusa, keineswegs aber für jene unsichtbar
seyn; und die Nothwendigkeit, einen Stuhl zu haben überall wo man sich setzen
will, ist ein etwas zu moderner Anstand. Eigentlich sollte sie auf der Schwelle
der Tempelthüre sitzen, so daß eine der Säulen sie vor Kreusens Blick verdeckt.
Bei der Erscheinung des Gottes läßt man eine kleine
Wolke vor dem Tempel nieder, um die Art, wie dieselbe hervorkommt, zu
verbergen, und ist dabei etwas freigebig mit Donner und Blitz. Wenn dies Gewölk
recht schnell herabfallend und verschwindend, wie ein leichter Dunst wäre, der
die Augen der Zuschauer auf einen Augenblick gleichsam blendete, so könnte das
als ein recht gutes Prestigium gelten; jedoch müßte man sich dabei mit Einem
Blitz und Donnerschlag begnügen. Allein so wie es jetzt geschieht, sieht es aus
wie ein Bündel Wäsche, das man mit Mühe herabläßt, um etwas zu verschirmen was
zu verschirmen nicht Noth thut, da das schnelle Aufgehn der Thürgardine, hinter
welcher Apollo schon steht, für sich viel graziöser wäre.
Was endlich die Dekorazion anlangt, so hatte mit lobenswerther Bereitwilligkeit die Direkzion sich einen Entwurf zu derselben von fremder Hand gefallen lassen. Die Ausführung danach war nun freilich unter aller Kritik schlecht gerathen; und gewiß nicht aus bösem Willen, sondern lediglich aus gänzlicher Unfähigkeit der Exekutoren. Wenn man auch den absoluten Mangel an Färbung und richtiger Haltung übersehen will; so kann man doch nicht ungerügt lassen, daß auch nicht Ein Strich auf dem rechten Flecke stand. Im Entwurf war ein alt-dorischer Peripteros angegeben: in der Ausführung war nicht nur die ganze Tiefe des Pronars verlohren gegangen, und mithin die Absicht, durch die vermehrte perspektivische Entfernung der Thüre die Gestalt Apollos in der Erscheinung zu vergrössern; sondern auch die Säulenstellung war völlig modernisirt, mit Pilastern hinter jeglicher Säule und Architraven von diesen nach der Wand hin. Und im heiligen Hain standen nichts als Zypressen, die hier nichts zu schaffen hatten, und wie bepuderte Kegel aussahen. Im Entwurf waren Pappeln angegeben, als die eine Beziehung auf Apoll haben; und nur um die Stelle des Altars auszuzeichnen, war hinter demselben ein Paar von jenen Bäumen angebracht. Aber aller solcher grober Fehler unerachtet that diese Dekorazion dennoch, blos durch die klare und zweckmäßige Anordnung, keine geringe Wirkung: und ihr größter Vorzug war dies, daß der größere Theil unter den Zuschauern, welcher von solchen Sachen nichts versteht, dies Mal auch gar nicht auf dieselbe Rücksicht nahm, indem ihre Theile, so wie sie in die Handlung eingriffen, ihm gleichsam wie mitspielende Parten vorkamen, und mehr im Text als in der Umgebung zu liegen schienen. In der Bühnenverzierung sind wir noch gar weit von jener klaren Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Griechen entfernt, und ahnen meist nicht einmal, welchen heilsamen Einfluß sie auf die Entwickelung einer theatralischen Handlung haben kann. Auch werden wir wohl in langer Zeit nicht dahin kommen, indem die heillose Verwirrung, welche die arrogante Sucht zu glänzen von Seiten der Theatermahler, die in der Regel die aller ignorantesten dieser Zunft sind, eingeführt hat, selbst in den Köpfen der Dichter fortspukt; und dieselbe Verkehrtheit, welche das falsche Verlangen zu mahlen in der Gartenkunst hervorgebracht hat, wird auch in der Szenerie noch wohl eben so lange zu erdulden bleiben. Doch sollte man billig keine Gelegenheit vorbeigehn lassen, die sich zu einem Versuch, wieder zur Ordnung zurück zu kommen, darbietet; und dies scheint der Angeber jenes Entwurfs hier beabsichtigt zu haben, wo die Stätigkeit der Szene ihm keine Schwierigkeit von Seiten des schon bestehenden mechanischen Apparats in den Weg legte, und wo eben die Einfachheit der Handlung wie von selbst auf eine gewisse Regelmäßigkeit im Ein- und Ausgehn der Personen hindeutete. Demnach machte er die Szene so wenig tief als möglich, legte den Tempelgiebel im Mittel der Hinterbühne in einen umgebenden Peribolus, und vor demselben den heiligen Hain. Das Prostylium des Tempels machte er freistehend, und über dem Peribolus lies er rechter Hand in die Stadt Delphi, linker Hand aber auf den Parnassus hinblicken. Im Hain stand, auf der Seite des Parnassus der Altar, auf der andern Seite ganz voran der Lorbeerbaum. So sah der Zuschauer das Ganze wie vom Meeresufer her: die Kommenden von Athen traten vorne hinter dem Lorbeerbaum auf, die von Delphi von derselben Seite zwar, jedoch tiefer hinein neben der Vormauer des Peribolus vorbei, und der Weg des Parnassus gieng auf der entgegengesetzten Seite; die Diener des Tempels aber hatten den Eingang zu ihren Wohnungen in den Peribolus hinein. Es war auffallend, wie viel diese reine Anordnung der Szene die Einsicht der Entwickelung den Zuschauern erleichterte; und wäre dieselbe in der Ausführung nur etwas besser gelungen, so hätte sie in ihrer Art als eine glückliche Annäherung zur Vollkommenheit angesehen werden können. Aber so giengen alle näheren Bestimmungen gänzlich verlohren. Von den klimatischen Bäumen, mit welchen der Fuß des Parnassus umgeben seyn sollte, Pignen, Platanen, Kastanien u.s.w. waren keine, weder der Farbung noch der Gestaltung nach zu unterscheiden, und überdem waren sie noch sehr ärmlich ausgezählt. Manche Fehler hatten auch einen tieferen Grund, als die bloße Unfähigkeit des Mahlers. So konnte der Tempel nicht genug erhöht werden, blos weil der Machinist die Soffitten nicht höher lüften wollte oder konnte: und dafür, daß der Mahler die langen Schlagschatten alle unterdrückt hatte, die so bestimmt den Stand der Morgensonne andeuteten, gab er zum Grunde an, daß wohl die Sonne manchmal auf einer andern Stelle postulirt werden möchte, und verwies mit dieser Antwort den Frager von seiner eigenen Ignoranz auf die Parsimonie in der Theaterverwaltung, die darauf bedacht ist, dieselbe Dekorazion in gar manchen Gelegenheiten wieder gebrauchen zu können. Uebrigens trug die gute Vertheilung des Lichtes, bei solcher Anordnung der Szene, auch viel dazu bei, daß das Auge alles soviel deutlicher unterschied als sonst. Aber hauptsächlich war dies der wohlverstandenen Enthaltung von dem sonst so mißbrauchten Gruppenmachen zu verdanken, welche mißverstandener Weise aus dem stätigen Gemählde hinübergetragen wird in die theatralische Szene, die ihrer Natur nach fortlaufende Beweglichkeit heischt. Hier kamen nur ein Paar Mal ungesuchte Gruppen heraus, die jedoch niemals das ganze Personale umfaßten; sonst aber standen die Interlokutoren immer gehörig aus einander. Dieses gewährte große Deutlichkeit im Anblick, und nur dem Hintergrunde blieb es anheim gestellt, immer den Totaleffekt des Gemähldes zusammenzuhalten. Noch einen besonders guten Eindruck machte es, daß Ion in den entscheidenden Momenten jedes Mal seinen Stand bei dem Lorbeerbaum erhielt, gleichsam den näheren Schutz des Gottes andeutend. ***
Königliches Nationaltheater. / 1) Ion, ein
Schauspiel in vier Akten, (von A. W. Schlegel.) / (Den 15ten und
16ten Mai.)
Die Schauspiele der Alten, waren sowohl
im Ganzen, als in allen ihren Theilen poetisch; die unsern sind größtentheils
prosaische Exempel zu Regeln, die aus der Poesie abstrahirt sind. Jene wurden
mit Religiosität angeschaut, als Götterfeste gefeiert und als Nationalopfer
begangen; diese dienen fast allgemein noch zu einem anständigen Zeitvertreib,
und selten noch zu einer Scene der Kunst und des Kunstsinns, der sich, ohne
Poesie und Religion, nur mit Mühe über die Sphäre des Amüsements zu erheben
vermag.
Eines der besten Mittel, das Publikum zu dem
reinen Geschmack der Kunst zu erheben, ist, Vorführung solcher Dichtungen, die
den Dichtungen der Alten nachgebildet sind. Uebersetzungen
vermögen es nicht; denn die Stücke der Alten selbst tragen doch neben dem, was
allen Geistern und allen Herzen in jedem Zeitalter verständlich ist, so viel
Graecität oder Latinität in der Zusammensetzung an sich, daß das innere
poetische Leben für den ungelehrten Zuschauer verschlossen bleibt; daher wohl
der in Weimar gemachte Versuch mit Aufführungen Terenzischer Stücke ohne
Nachahmung bleiben möchte. Nur Darstellungen im
Geiste der Alten, oder ihnen nachgedichtet, in welchen die Poesie der
Handlung und der Charaktere für jegliches Gefühl über die Individualität der Sitten und der Zeitalters waltet,
können den Kunstzweck fördern, und das Theater allmählich zu seiner ihm
gebührenden Würde erheben.
Zu ihnen gehören unter andern, Schillers Wallenstein, (der, obgleich in modernem
Kostüm, doch im Geiste der Alten gedichtet ist); dazu würde, bei mehr innrer
Poesie, Regulus gehören, dazu gehört
entschieden, Ion.
Auch hier sind alle einzelnen Theile, wie
das Ganze, poetisch. Die Charaktere haben jene idealische Individualität, die
sie so wahr und zugleich erhaben macht, (vorzüglich der Charaktere des Ion und
der Kreusa); die Region, in welcher die Handlung vorgeht, ist so rein
menschlich und doch über jedes Gemeine erhaben, so, daß die Theophanie am Ende
einem jeden Sinne natürlich erscheint; die Sprache ist durchaus dichterisch,
so, daß fast keine Stelle, durch Versetzung der Worte in Prosa aufgelöst werden
könnte. – Trotz dem, daß diese Namen
nie auf einem modernen Theater gehört wurden, daß die alt-griechischen Sitten
den meisten Zuhörern unbekannt waren, verfehlte die Darstellung ihre große Wirkung nicht.
Dies ist die trockne Fabel des Stücks:
Ion lebt als Tempelknabe zu Delphi (wie einst Samuel im Tempel des Jehovah) ein
heilig stilles Leben. Xuthos und Kreusa, die Beherrscher Athens, kommen mit
Weihgeschenken, um das Orakel über ihre Kinderlosigkeit zu befragen. Apoll zeigt
jedem den Ion als Sohn an; diese, einst die Geliebte des Gottes selbst, wird
durch diese Zurücksetzung und Ungerechtigkeit empört und beschließt,
aufgereitzt durch den alten Diener ihres Hauses, den Jüngling beim Opfermahl
ermorden zu lassen. Der Anschlag wird entdeckt, Kreusa bekennt sich wüthend als
Anstifterin; sie flieht; Ion verfolgt sie mit Pfeil und Bogen. Erschöpft kehrt
sie zum Altar des Apollo als Fliehende (??????) zurück. Eben als selbst dort
Ions Pfeil sie treffen soll, bringt Pythia den Korb, in welchem sie den Knaben
einst an der Tempelschwelle fand, und worin noch alles liegt, was seine Mutter,
als sie ihn aussetzte, ihm mitgegeben hatte. Kreusa ist diese Mutter, Apollo –
er bestätigt es selbst – sein Vater. Ein zweiter Sohn wird Xuthos und Kreusa
verheißen.
Diese Fabel erinnert augenblicklich an
den Ion des Euripides, und es ist
nicht zu läugnen, daß Schlegels Ion dem des Euripides nachgedichtet ist. Aber
statt, daß er eine bloße Uebersetzung oder Nachahmung seyn sollte, ist er
vielmehr poetischer, als jener. Es war dies auch eine unerlaßliche Forderung an
den neueren Bearbeiter der Fabel; denn wodurch hätte er sonst das hohe
Interesse ersetzen wollen, das der Athener an dem Schicksal seines alten Königshauses
und an dem Stifter des herrlichen Ionischen Stammes nahm, als durch Erhöhung
des Nationalinteresse zum rein menschlichen? – Es war die Aufgabe zu lösen: den
griechischen Ion zu einer Dichtung des 19ten Jahrhunderts und aller Zeiten zu
erheben, und diese Aufgabe ist befriedigend gelöst.
Im Ganzen ist bei beiden Dichtern der
Gang der Handlung derselbe, so auch die Charaktere, die nur bei dem neueren
schärfer ausgezeichnet sind. Auch im Einzelnen sind viel Aehnlichkeiten, z. E.
Kreusa erzählt dem Ion ihre Geschichte, als die einer Freundin; Xuthos hat eine
ähnliche Begebenheit mit einer Bacchantin, ihm zeigt Apoll räthselhaft den Ion
als Sohn an; das Opfermahl, die Vergiftung, das verbum male omniatum des Sklaven, der Tod der Tauben etc. wird auf
gleiche Art erzählt. Vorzüglich schöne Verse sind wörtlich aus Euripides
beibehalten, z. E. der Doppelsinn in den Worten der Kreusa:
Phoibos Apollon weiß, wie kinderlos ich bin!
Doch sind der Verschiedenheiten in der Handlung und im Einzelnen bei weitem
mehrere, und darunter solche, die das neuere Gedicht zu einem Original machen.
Andere fließen aus der veränderten Anlage der Handlung und der Charaktere,
mache scheinen indeß den Euripideischen nicht vorzuziehen zu seyn. Des Orakels
des Trophonuis wird z. B. im Euripides nur beiläufig erwähnt, da im neuern Ion
die Orakelbilder poetisch ausgemahlt werden; statt der Anrede des Ion an den
Chor:
Ist zurück vom heiligen Trivus und Apolls
Ausspruch gekehrt Xuthos, oder harrt er
drinnen noch, der Kinderlos’ und forscht?[*]
singt der Knabe eine Hymne zur Leyer, die
ganz im Geiste des Alterthums gedichtet ist; beim Euripides giebt der Vater ihm
erst nach der Erkennung seinen Namen:
Ion (???) heiß aber nun; so will es das
Geschick,
Das deinen Fuß mir, da ich vom Tempel kam
Zuerst entgegenführte.
Durch den Chor erfährt Kreusa, daß der
Knabe ihrem Gemahl gegeben ist. Das Gorgonische Gift vom Erichthonius verwahrt
nicht der Greis, sondern (und zwar wahrscheinlicher) Kreusa selbst, auch macht
sie den Anschlag gegen Ions Leben; die Geschichte des großen Opfermahls und der
Vergiftung erzählt ein Sklave, nach der Vergiftung giebt sich Kreusa nicht
selbst, sondern der Greis, sie als Anstifterin an; Pythia hört nicht von der
Königin das Geheimniß, sondern sie bringt das Kästchen des Ion ohne alle nähere
Veranlassung; Kreusa flieht nicht vor Ion, sondern rettet sich sogleich zum Altare
(daher die drei herrlichen Monologen ganz neu sind); Xuthos erscheint, nachdem
er den angewiesenen Sohn gefunden hat, gar nicht mehr auf dem Theater u. s. w.
Ueber jede dieser Verschiedenheiten
ließen sich fruchtbare Vergleichungen anstellen, die den originalen Plan des
neueren Dichters vielleicht am besten ins Licht setzen würden. Allein sie
werden besser und verständlicher angestellt werden können, wenn das Gedicht dem
Publikum durch den Druck geschenkt seyn wird.
Jetzt erwähnen wir nur zweier bedeutenden
Veränderungen, zu welchen wir die Gründe nicht ganz finden können.
Kreusa sitzt am Altar, Pythia bringt den
Ion, der seine Mutter eben mit dem Pfeil durchbohren will, seine Korbwiege; er
untersucht ihren Inhalt, und nimmt ein Stück nach dem andern hervor; als Kreusa
die goldnen Schlagen erblickt, springt sie lebhaft herab und ruft: Mein Sohn! und
ohne weiteres erkennt Ion, der sich gegen Xuthos so mißtrauisch gezeigt hat und
gegen Kreusen so aufgebracht ist, daß er selbst den Altar seines Gottes nicht
achtet, - erkennt sie sogleich als Mutter. So in der Schlegelschen Dichtung. –
Beim Euripides bringt ihm Pythia das Kästchen, damit er seine Mutter suche;
nach einem herrlichen Monolog, worin er zweifelt, ob er dies thun oder das
Kästchen dem Apoll opfern solle, und wobei er das Aeußere desselben betrachtet,
spricht Kreusa:
Welch Bild erstorbner Hoffnung schwebt um
meinen Sinn?
und springt herab, Ion befiehlt, sie zu
ergreifen.
Kreusa. – An dir, Sohn, halt’ ich mich,
An diesem Kästchen und an dem, was es
verbirgt.
Ion. Ist das nicht unerhört? Mich selber
reißt sie fort.
Kreusa. Nicht so! – Die Liebende hält den
Liebenden nur im Arm.
Ion. Ich lieb’ dir? und doch hast du mir
den Tod gebräut?
Kr[eusa]. Mein Kind bist Du! Nichts
Lieberes hat die Mutter ja.
Er zeiht sie des Trugs, und sie sagt ihm
in einem Dialog, das Kästchen enthalte seine von ihr gewebten Kleider, die
Schlangen und den Oelzweig – und nun
erst ruft Ion:
O Mutter, liebend schau ich Dich,
Die Liebende, und fall’ an Deine Wange.
So scheint die Erkennungsscene mehr
motivirt zu seyn, ob gleich in der neueren Bearbeitung die Erkennung durch die sanftre Stimmung, in welcher Ion,
durch die Betrachtung jener Stücke aus dem Korbe versetzt wird, und das Zeugniß
der Pythia auch Wahrscheinlichkeit erhält.
Die zweite Veränderung ist die, welche
der Dichter mit der Theophanie vorgenommen
hat. – Xuthos hat Kreusen verziehen, Ion ist als ihr und Apolls Sohn anerkannt,
man wünscht nur noch ein Bestätigungszeichen vom Gotte selbst. Da erscheint
Apoll, auf das kühne Gebet Ions, in der Tempelhalle, erklärt sich als den Vater
des Knaben, und spricht über Xuthos und Kreusens Nachkommenschaft Vaticinien
aus. – Im Euripides zweifelt Ion an der Erklärung seiner Mutter: Apoll habe ihn
dem Xuthos nur zugeführt, um ihm Theil an der Regierung Athens zu geben, und
spricht:
So leicht wird’ ich, o Mutter, nicht
beruhiget;
Nein, in den Tempel geh’ ich und befrag’
Apoll,
Ob mich ein Sterblicher oder Loxias
erzeugt.
Doch sieh! Vom weihrauchvollen Tempel
aufgeschwebt,
Wer zeigt dies sonnengleiche
Götterangesicht? –
Athene erscheint, gefolgt von ihrem Bruder:
„Denn euren Anblick scheute noch der
Göttliche,
Daß ihr ihn des Vergangnen nicht
erinnertet – “
und verkündigt: Apollo sei der Vater
Ions, er habe ihn Xuthos gegeben, um ihn ins Haus der Erechthiden einzuführen.
Darauf spricht sie die Prophetien aus, und schließt:
Verschweig’ es denn, Kreusa, daß dein
Sohn er ist,
Daß holder Wahn Xuthos Gemüth bethör’ und
du
Auch wieder deines Glückes dich erfreuen vermagst. –
Die Erscheinung Apolls selbst ist
kräftiger und kühner; aber in der Sendung Athenens, weil der Gott sich in
seiner seeligen Ruhe durch Erinnerungen nicht stören will, und in der gebotenen
Verhehlung von Xuthos, liegt eine gewisse – wir möchten sagen – Delikatesse (pudor), die von schöner Wirkung ist, und
von dem alten Dichter wirklich überraschen würde, wenn sie nicht im Geiste des
Alterthums wäre.
Nur noch wenige Worte von der
vortrefflichen Darstellung auf dem hiesigen Theater. Die Dekoration war vom
Dichter selbst angegeben und vom Herrn Genelli gezeichnet. Im Hintergrunde der
treu nachgebildete Tempel des pythischen Apollo zu Delphi auf einer Estrade;
auf der Scena der Lorbeerbaum und der Altar. Ion erschien in der Darstellung
fast wie ein antiker Mignon, nicht
von einem irrdischen Manne erzeugt, ein Wunderkind, das aus dem Aether
herabgestiegen ist, und über dessen Geschlecht die Natur kaum entschieden hat.
Mad. Unzelmann war Ion. – Mad. Meyer führte die Wirkung des tragischen
Kothurns auf unser Theater; in der Kreusa stellte sie die ganze Kraft und Würde
einer altgriechischen Matrone, der
Enkelin und Geliebten eines Gottes dar, und lieferte in Wort-, Mienen- und
Gebehrdenausdruck Studien für die Kunst. Der lange Monolog am Altar ist des
Dichters und ihr Meisterstück. – Hr. Iffland
gab den Xuthos, und rundete dadurch das Ganze zu einer vollkommnen Darstellung.
F.
[*]
Nach Hrn. Bothe’s Uebersetzung.
Nationaltheater: Ion (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/142.
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