Nach einer langen
Pause ward am 21sten März wieder einmal Menschenhaß und Reue gegeben und
ohngeachtet das üble Wetter viele, welche die Bekanntschaft mit einem alten
Lieblingsstück gerne erneuern mochten, davon abhielt, war das Haus doch
ziemlich besetzt. Der Eindruck, den das Stück machte, war nicht geringer als
bei seiner ersten Erscheinung auf unsrer Bühne; die Schauspieler spielten ohne
Ausnahme mit Fleis und der gute Genius der Kunst ließ ihnen größtentheils ihre
Darstellungen glücklich gelingen, das Publikum hatte einen unbefangnen Sinn und
ein gefühlvolles Herz mitgebracht und so — reichten sich Künstler und Freunde
der Kunst zu einem schönen wechselseitigen Genuß vertraulich die Hand.
Fast möchte es
sonderbar scheinen, über dies, so oft und so viel beurtheilte und bemäkelte
Stück, noch ein einziges Wort zu sagen, und ich schwiege auch lieber, zumal da
ich nur meine alten Gedanken wiederhohlen kann, aber ich würde dann vom Pferde
auf den Esel kommen, von Menschenhaß und Reue — schweigen und von den Korsen
reden müssen. Und ehe ich dies thue, will ich mich erst mit dem bessern
Kotzebue verständigen, den ältern von neuem herzlich lieb gewinnen, um dem
jüngern mit allem Wohlwollen begegnen zu können.
Die große und
entschiedene Wirkung, die Menschenhaß und Reue bei einer guten Besetzung der
Rollen auf der Bühne macht und machen muß, wenn das Publikum für Darstellung
und Kunstgenuß nur einigermaßen empfänglich ist, hatte bedeutende Folgen für
die Kunst, für das Publikum und für den Verfasser selbst. Es wurde auf allen
Theatern so häufig und immer mit so ungeschwächtem Beifall wiederhohlt, daß der
Geschmack des Publikums dadurch gewissermaßen eine andere Richtung erhielt; es
wurde in Journalen herausgestrichen und von Kennern und Nichtkennern beynahe
über alles erhoben, was die dramatische Muse unsers Vaterlandes sonst ans Licht
gebracht: der Verfasser wurde als ein Meerwunder angestaunt und in der That
brachte ihm dieser glückliche Wurf den Vortheil, daß er ihm als ein Freybrief
für seine übrigen, zum Theil sehr mittelmäßigen Produkte galt. Gleichwohl
fehlte es auch bald Anfangs nicht an Leuten und zwar an Leuten von Gewicht und
Ansehen in der litterarischen Welt, die weit entfernt ihre Stimme mit dem
Urtheil des großen Haufens zu vereinigen und in das allgemeine Bravogeschrei
des ganzen Deutschlands einzustimmen, sich vielmehr, nachdem sie die
Schönheiten dieses Stücks gegen seine Mängel aufs genaueste abgewogen, wenn
auch nicht gegen den Werth einzelner Stellen, doch wenigstens gegen die
Ausführung und Anordnung des Ganzen erklärt haben. Ich wage es nicht zu
entscheiden, ob ihr Ausspruch etwas gegen den allgemeinen Beifall, der diesem
Schauspiel von allen Seiten her zugeströmt, gelten könne; aber soviel weiß ich,
daß die Gründe der Minorität wenigstens Gehör verdienen und daß nur eine
sorgfältige Auseinandersetzung des Plans, der Karakteristik und des Dialogs uns
den Leitfaden an die Hand geben kann, diesen Widerspruch in den Meinungen zu
heben, oder wenigstens begreiflich zu machen.
Wirft man also
zuförderst einen aufmerksamen Blick auf den Plan, so sieht man durchgängig
beinahe von Anfang bis zu Ende den Zufall walten, der so leicht in keinem andern
Stükke eine so despotische Gewalt über die handelnden Personen ausübt. Sie sind
gleichsam nur Maschinen, die sich entweder gar nicht auf Antrieb ihres eignen
Willens bewegen oder wenigstens so lange müßig dastehn, bis der Zufall ihrem
Willen den ersten Stoß giebt. Zweck und Absicht wird man fast nirgends gewahr
und selbst wenn sich eine Spur davon bei diesem oder jenem, wie z. B. bei
Meinau findet, so kömmt straks der Zufall dazwischen und stößt durch einen
unvermutheten Querstrich das Werk der Überlegung oder den Entschluß der
Leidenschaft über den Haufen. Der Zufall führt den betrogenen Gemahl in die
Gegend, wo sein ungetreues, aber büßendes Weib eine Freistatt gefunden; der
Zufall läßt den Ersteren in der Person des Baron von der Horst seinen Jugendfreund
entdekken, und der zufällige Einsturz einer morschen, aus alten Trümmern
zusammengeflickten Brükke wird die unschuldige Ursache, daß der finstere, von
aller Gesellschaft geschiedene Meinau wieder unter Menschen erscheint, und
gleich bei seinem Eintritt in die Welt durch den Anblick seiner verführten
Eulalia überrascht wird.
Dies heißt doch
wahrlich dem Zuschauer einen felsenfesten Glauben zumuthen und die Forderungen
übertreiben, die der Dichter an unsern Sinn für Täuschung machen darf. Freilich
kann man nicht von ihm verlangen, daß er den Zufall gänzlich ausschließen und
alles, was geschieht, nur aus dem Karakter seiner Personen motiviren soll; dies
Begehren wäre eben so unbillig als zweckwidrig. Denn der Gang der Handlung
bekömmt nicht selten durch die Einmischung kleiner Zufälle einen Grad von
Wahrscheinlichkeit, der uns die Kunst versteckt, und uns in ihr den wahren
getreuen Abdruck der Natur um so eher wieder erkennen läßt, da wir auch in der
wirklichen Welt nicht im Stande sind, jeden Vorfall, jede Begebenheit auf
gewisse Plane und Zwekke zurückzuführen und alle Erscheinungen aus den
Triebfedern des menschlichen Herzens zu entwikkeln. Nur muß sich der Dichter
diesen Vortheil, den wir ihm willig einräumen, nicht immer, und wie mich dünkt,
so selten als möglich zu Nutze machen und sich vor allen Dingen in Acht nehmen,
daß der entscheidende Schlag, von welchem die ganze Auflösung seines Karakters
und das endliche Schicksal seiner Helden und Heldinnen abhängt, nicht durch ein
Spiel des Zufalls, nicht durch das unmotivirte Zusammenstoßen unvorhergesehener
Begebenheiten erfolge: und diesen Fehler hat sich Kotzebue in der Behandlung
seines Plans offenbar zu Schulden kommen lassen. —
Doch nicht die
Handlung allein, auch der kontrastirende Ton, der im Ganzen herrscht, möchte
einigen gegründeten Einwürfen ausgesetzt seyn. Uberall wechselt das Ernsthafte
mit dem Komischen so unvorbereitet, so auffallend ab, daß die vorhergehende,
oft mit so vieler Kunst und Mühe erregte Empfindung mit einemmale zerrissen
wird und man sich durch Einen plötzlichen Schlag in ein ganz anderes Interesse,
ja selbst in ein anderes Schauspiel versetzt glaubt. Durch solche gewagte,
rasche Übergänge verstößt der Dichter durchaus gegen seinen eigenen Vortheil.
Es ist, als ob er uns dadurch mit Gewalt aus der Täuschung weckte und uns
vorsätzlich erinnerte, daß alles, was wir wirklich zu sehen und zu fühlen
glauben, nichts als ein leerer Traum sei. Der Zauber der Täuschung löset sich
gar zu leicht, der magische Nebel, den er über die Gegenstände ausgießt,
zerflattert bei jeder heftigen Erschütterung: er bedarf einer ununterbrochenen
Stille, und die Bilder und Scenen, die er vor uns erscheinen läßt, müssen
so sanft als möglich, wenigstens ohne gewaltsame Sprünge und scharfe
Veränderungen im Kolorit an unsrer Seele vorübergleiten, sonst finden wir uns
gar bald wieder und erwachen aus dem angenehmen Schlummer, aus dem süßen
Vergessen unsrer selbst, worinn uns der Künstler gewiegt hat. —
Einheit im Ton
ist gewiß das sicherste Mittel, diese widerwärtige Rückkehr zu verhindern, wohl
verstanden, daß man Einheit nicht mit Einförmigkeit verwechseln und nicht vom
Dichter erwarten darf, daß er unsre Empfindungen immer auf Einen Punkt gespannt
halten oder beständig auf unser Herz losarbeiten soll. Damit wäre uns im Grunde
wenig gedient. Denn unser Gefühl stumpft sich, wie jede andere Kraft der Seele,
durch eine allzulange Spannung ab, wir brauchen nothwendig Zwischenräume, wo
wir wieder Athem schöpfen und uns Kräfte zu neuem Genuß und zu neuen Erschütterungen
sammeln können — aber warum nutzt der Dichter diese Zwischenräume nicht lieber
für unsern Kopf als für unser Zwerchfell? warum füllt er sie nicht lieber mit
wichtigen interessanten Bemerkungen, wozu ihm der Zustand seiner Personen
Gelegenheit giebt, oder wenigstens mit seinen Conversationsscenen, als mit
Burlesken und lächerlichen Schwänken, die ohngefähr zum Ganzen passen, wie ein
Dittersdorffsches Rondeau zu einer Passionsmusik.
Unter den übrigen Karakteren zeichnen sich besonders die launigte, aber eben so edle Gräfinn und der gutmüthige Graf mit seinem Anstrich von Epikurâismus aus. Doch hat der Dichter diese letzte Seite im Karakter des Grafen wohl ein wenig zu stark beleuchtet. Ich zweifle, ob es einen Menschen geben kann, der von seinem Pflegma so beherrscht wird, daß er alles, was geschieht, alles, was ihn und seine Bequemlichkeit nicht unmittelbar betrifft, mit so gleichgültigen Augen ansieht, als ob zwischen ihm und den Wesen, die um ihn her leiden und handeln, nicht die geringste Annäherung statt fände. Zudem stimmt dieser Zug von Fühllosigkeit gar nicht zu manchen andern Äusserungen des Grafen; seine Lebensphilosophie ist nur bequem und sanft, aber nicht rauh und verträgt sich recht gut mit einer gewissen Theilnahme an dem Schicksale seiner Nebenmenschen, vorausgesetzt, daß diese Theilnahme ihm nur nicht zu viel kostet und ihm allzudrückende Pflichten auflegt. Aber daß er in einem Augenblick, wo das Wohl und Weh einer Person, die ihm werth ist, und welche zu seiner Familie gehört, sich seiner Entscheidung nähert, daß er da alles Interesse an sie, ja selbst die so natürliche Regung der Neugierde unterdrükken und zum Zeitvertreib auf die Fliegenjagd gehen soll — nein, dies verlangt sein System nicht von ihm, mag es übrigens noch so sehr zum Vortheil der Trägheit kalkulirt sein. Auch selbst ein Wollüstling geht zwar unangenehmen Situationen gern aus dem Wege, aber wenn sie ihn unvermuthet überraschen, kann er doch den Eindruck, den sie auf ihn machen müssen, nicht so plötzlich wieder abschütteln. Wahrlich, Bittermann mit seinen hämischen Bemerkungen und neidischen Seitenblikken ist mehr Mensch als Sr Excellenz; denn Bittermanns kleinlicher Groll, seine Sucht an Eulalia zu tadeln und über sie zu spötteln, beweisen doch wenigstens, daß sie ihn interessirt, da im Gegentheil der Herr Graf für nichts anders empfänglich zu sein scheint, als für eine wohlbesetzte Tafel, die er, — bei seinem Temperament weiß man in der That nicht, warum? — auch noch zum Überfluß mit Menschen servirt zu sehen wünscht. Was man in diesem Schauspiel am meisten angefochten hat, ist die Moralität desselben und eben darum wäre ich nicht abgeneigt, gerade dieser eine Schutzrede zu halten. Die Rigoristen sagen mit von der Horst: ein ehebrecherisches Weib ist ein Schandfleck in der Natur und ihr verzeihen, heißt, ihre Schande theilen. Wird Eulaliens Beispiel nicht auf andere Weiber Einfluß haben? Werden sie nicht auf den Gedanken kommen, jeder Fehltritt, den sie begehen, müsse ihnen nicht länger angerechnet werden, wenn sie, wie Eulalia, dafür gebüßt. Welch’ eine Aufmunterung für das schöne Geschlecht, die Versöhnlichkeit der Ehemänner auf die Probe zu setzen! Mit Gunst der strengen Herren sei es gesagt, ich halte die Gefahr für so groß nicht. Wie mich dünkt, ist ein mächtiger Unterschied zwischen Eulalia und den Weibern, die sich durch ihr Beispiel etwa zu einem ähnlichen Fehltritt berechtigt glauben; sie hoffte nichts von der Versöhnlichkeit ihres Mannes, und eben darum verdiente sie vielleicht Verzeihung; sie fiel — in der festen Überzeugung, daß ihr Gemahl sie niemals wieder aufnehmen, sondern sie ihrem Schicksale wieder überlassen würde und gerade dies erleichtert ihr Vergehn, das uns unstreitig in einem schrecklichern Lichte erscheinen müßte, wenn sie sich der Großmuth ihres Mannes versichert gehalten und nun in diesem Glauben frisch drauf los gesündigt hätte. Ihre Verirrung mag so groß sein als sie will, man kann ihr wenigstens nicht vorwerfen, daß sie Meinaus Schwäche als ein Motiv dazu gebraucht; und dies ändert die ganze Sache und macht die Katastrophe des Stücks wenigstens insofern unschädlich, daß keine Frau sich mit Eulaliens Schicksale brüsten darf, die bei einem ähnlichen Verbrechen schon zum Voraus auf das gute Herz ihres Ehegespanns rechnete. An jener Klasse übersentimaler Weiber aber, die darum Eulaliens Fehltritt gern nachahmen möchten, weil es auf der Bühne so rührend, so schön läßt, zu büßen wie sie und weil diese Buße alle Herzen für sie gewinnt, — ist nichts mehr zu verderben und zu verbessern; wo Phantasie und Gefühl schon so verschroben sind, kann das Unschädlichste, schädlich, die Rose zur Giftpflanze werden. — Ich schließe diesen für die meisten Leser vielleicht zu langen Prolog über das Stück selbst, mit einem bei weitem kürzern Epilog über dessen Darstellung und fange mit Peter an, weil — Peter mit dem Stück anfängt. Herr Ambrosch gab sich Mühe genug mit diesem Burschen, aber — Peter ist kein Barbiergeselle, und was gestern gut war, ist heute nicht gut. Herr Reinwald ist recht komisch, recht trokken komisch — aber immer Reinwald, nicht der rastlose, immer geschäftig thuende, schwazhafte, vollmauligte politische Kannengießer Bittermann, — und auch das ist nicht gut. Madame Schwadke ist hier recht niedlich, nur versteht man sie zuweilen nicht — und das ist schlimm. Wenn Herr Herdt als Greis weniger pathetisch deklamirte, wäre es sehr viel besser und wenn Herr Kaselitz als Franz den freilich vom Dichter zu sehr gespannten Ton zu seinem treuherzigen, ehrlichen Gesicht noch ein wenig mehr herabstimmen wollte, wäre er ganz gut. Madame Böheim als Gräfinn spielt herzlich und theilnehmend, spricht richtig und deutlich, aber daß ihr Ton fast immer kostbar, ihre Gesten gewöhnlich geziert sind, ist nicht gut, und vollends übel ist es, wenn sie zu glauben scheint, daß sie das Kostbare und Gezierte noch ein paar Saiten höher stimmen müsse, sobald sie eine Person von Stande darzustellen hat. Herr Schwadke als von der Horst hat viel Feuer, viel edles Feuer, fast zu viel, — doch nein, das möcht’ ich nicht sagen; Horst ist ein warmer Freund Meinaus, und liebt Eulalien, er muß zwar die Liebe aufgeben, da er die Entdekkung macht, daß Eulalia Meinaus Weib ist, aber die Gefühle der Freundschaft und der Liebe vereinigen sich jetzt in den Eifer, beide wieder zu vereinigen, lenken alle seine Gedanken und Empfindungen auf diesen Einen Punkt hin und in und für diesen Einen Punkt herrscht, lebt und handelt er; seine Wärme muß Gluth, sein Eifer Feuereifer werden. Also nicht zuviel Feuer möcht’ ich an Herrn Schwadke tadeln; aber einen zu rednerischen Ausdruck. Mehr Geschmeidigkeit, mehr Fluß, weniger Wort-Deklamation, weniger prächtige Manier und Herr Schwadke ist vortreflich. Nicht am unrechten Orte steht hier die berühmte Stelle über das Feuer des Schauspielers aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie: „Man spricht soviel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zuviel Feuer haben könne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anführen, daß ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig oder wenigstens heftiger sein könne, als es die Umstände erfordern; so haben die, welche es leugnen, Recht zu sagen, daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zuviel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Überhaupt kömmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl unstreitig, daß der Aktör darinn zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stükke, die den Aktör ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben; so müßten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur äussersten Illusion getrieben zu sehen wünschen, wenn es möglich wäre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden könnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein, dessen Mäßigung Shakespear selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muß bloß jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meinen, und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Mäßigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stükken mäßigen müsse. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer äussersten Anstrengung nicht widerwärtig würden; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsre Augen und unsre Ohren beleidigt werden, und nur alsdann, wenn man bei Aeusserung der heftigsten Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches Hamlet auch da noch von ihnen verlangt, wenn sie den höchsten Eindruck machen und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrekken solle.“ Der General Wintersee des Herrn Unzelmann ist vom Scheitel bis auf die Ferse ein Meisterstück der Darstellungsgabe dieses Schauspielers; alles, bis auf die kleinsten Kleinigkeiten, ist karakteristisch, alles hat Physiognomie und Bedeutung, jede Nüanze ist ein nothwendiger Pinselstrich zur Vollendung des Gemähldes, und doch ist alles so frei, so ohne Zwang, so höchstnatürlich, daß man glauben sollte, das Naturell dieses Schauspielers treffe hier mit dem darzustellenden Karakter in allen seinen Weisen und Eigenthümlichkeiten zufällig zusammen. Bei den berühmten Darstellungen des Herrn Fleck und der Madame Unzelmann als Meinau und Eulalia hätte der Dramaturg viel aufzuzeichnen, wenn er alle Eindrükke sammeln, zergliedern und in verständliche Worte zu kleiden versuchen wollte. Und gewiß dürfte die Analyse des Eindrucks, den ein schönes Kunstwerk im Ganzen und in allen seinen Theilen auf uns macht, die beste Kritik desselben und der würdigste Lobspruch für den Künstler sein. Geistvolle Künstler haben Eigenschaften, entwikkeln Züge und Nüanzen, an denen alle Beschreibung erlahmt; je mehr sie das rege Gefühl im Augenblick der Darstellung beschäftigen, desto weniger Zeit lassen sie dem Beobachtungsgeist zu Bemerkungen übrig, ja sie scheinen fast nur für das erstere zu gehören. Das schönste eigenthümlichste in dem Gemählde eines Correggio unterscheidet vielleicht der scharfsinnigste Blick des geweihtesten Kenners nicht deutlich, indem sein Gefühl davon lebendig erfüllt ist: wie viel weniger ist dies bei einem transitorischen Kunstwerk möglich! Hier, wo der Sinn keinen Augenblick einen Ruhepunkt hat, wo immer ein Ton mit dem andern, eine Miene mit der andern wechselt, wo ein verweiltes Nachsinnen über diese nur mit dem Verlust der folgenden erkauft werden kann. Das Höchste, was dem Beobachtungsgeiste gelingen kann, ist die Aufzeichnung der Hauptmomente einer Darstellung, — selbst bei einer oft wiederhohlten Anschauung wird seine Beute nicht viel größer werden; — also immer nur Einzelnheiten, soviel ihrer auch sein mögen; und Einzelnheiten, auch die bedeutendsten aus dem Ganzen eines genialischen Kunstwerks abgerissen, sind köstliche Purpurlappen, aber nichts mehr. Nicht ein lebendiges Bild, nicht einmal die einzelnen Züge in ihrem schönsten Gehalt — denn, abgerissen von dem Ganzen, fehlt ihnen der Reiz, den die Harmonie ihnen giebt — würde ich der Vorstellungsfähigkeit des Lesers nahe bringen, wenn ich ihm den Ton und den Blick schildern wollte, womit Madame Unzelmann den Seelenzustand Eulaliens in den ersten Scenen ausdrückt, die wiedergekehrte Ruhe und den freundlichen Frohsinn eines Herzens, dem es endlich gelang, über das Zwischenreich ihres Verbrechens hinweg, sich wieder an die Stimmung einer schuldlosen Jugend anzuschließen, die Wehmuth, die die kleinste Erinnerung an ihr Verbrechen in diesen Ton mischt; die Feinheit ihres Conversationstons in der Scene mit Horst; die rührende Zartheit, mit der sie seinen Fragen nach ihren ehemaligen Verhältnissen ausweicht; den herzschneidenden Ton der in ihrer ganzen Stärke zurückkehrenden Angst und Verzweiflung, als sie durch den Anblick der Winterseeschen Kinder an die verlassenen ihrigen erinnert wird; den Kampf ihrer Seele, das Wollen und Widerstreben der marternden Geistesangst und der edelsten Schaam in der Scene des dritten Akts mit der Gräfinn, ohne Contorsionen und langweiliges Winseln; die Inbrunst ihres Schmerzes, den Aufruhr aller Gefühle in der letzten Scene mit Meinau und den namenlos rührenden Ton der Ergebung, mit dem sie zu Meinau die Worte sagt: „so haben wir uns denn in diesem Leben nichts mehr zu sagen.“ — Ein eben so unvollkommnes, schwaches Bild würde ich dem Leser von dem an großen Zügen, an so mannigfaltigen Schönheiten reichen Spiel des Herrn Fleck entwerfen. Ich habe indeß, indem ich hier nur auf einige Momente der vortreflichen Darstellungen beider großen Künstler hindeute, nicht gerade die letzte Vorstellung des Stücks im Sinn. Beide, Herr Fleck und Madame Unzelmann haben diesmal ihre Rollen nicht so durchgehends vollendet geliefert, als ich sie sonst wohl von ihnen gesehen habe. Eine vollkommen schöne Darstellung in zwangloser Einheit gelingt nicht alle Tage, auch bei dem besten Willen, dem größten Künstler. Zum Schluß nur eine Frage noch an Madame Unzelmann. Wenn der alte Greis trotz Peter und dem Hofhunde in das Zimmer Eulaliens tritt, als sie gerade in der Unterredung mit Horst begriffen ist, um ihre Kniee zu umfassen und ihr seinen Dank für ihre Wohlthaten zu sagen, wird Eulalia nicht alles, was schicklich ist, anwenden, um den Alten nicht zu Worte kommen zu lassen, und wird sie, wenn sie dies auch vergebens versucht hat, nicht während seiner Erzählung von ihren Wohlthaten, beständig bemüht sein, den Strom seiner Rede zu unterbrechen? wird sie ihn nicht jeden Augenblick durch alle zarte, schickliche Mittel zum Schweigen, zum Fortgehen, bewegen? Horsts Worte „keine falsche Bescheidenheit Madame, gewähren Sie mir den Augenblick, der mich noch mehr von ihren Tugenden überzeugen wird“ — können sie nach meinem Gefühl unmöglich bestimmen, jetzt ruhig, wenn gleich mit abgewandten, bescheidnen Blick, die Erzählung des Greises anzuhören. Eine so geistvolle Künstlerin, wie Madame Unzelmann, hat zu der von ihr gewählten Spiel-Art gewiß einen Grund in ihrem Gefühl gefunden. Ich möcht’ ihn wissen, — ich lerne so gern von einer weiblichen Seele.
Den 24. May. Menschenhaß und Reue. Ueber dies Stück ist in unsern Blättern schon gehandelt worden. Die heutige Vorstellung wurde durch das Spiel des Hrn. Iffland, der uns den Haushofmeister Bittermann gab, interessant. Sein Spiel war, bis auf die kleinsten Züge, musterhaft durchgeführt. Ein kleiner angebrachter Zug, da er den kleinen Kindern des Barons die Hand küßt, ist ganz aus der Physiognomie der Seele eines hochgräfl. Verwalters gestohlen. Auch die Kleidung war, ohne Karrikatur ganz dem Charakter gemäß. Herr Hagemann aus Hannover, gab dem hiesigen Publikum einen neuen Beweis von der Vorzüglichkeit ihres Theaters. Er fiel gewaltig neben Mad. Unzelmann hinab, und kaum konnte man der schönen Sünderin Eulalia Meinau verübeln, daß sie einem solchen steifem Peter untreu geworden. Man sieht wohl, daß Herr Hagemann kein gewöhnlicher Schauspieler seyn will. Er hat nachgedacht. Aber alles an ihm ist affektirt, wir Berliner setzen in die schöne Nachahmung edler Natur einen Hauptzweck der Kunst. Ton, Miene, Gang, Stellung — alles ist gezwungen, ängstlich, steif abgemessen. Ausdruck an Ausdruck, hört man deklamiren, wo man sprechen hören, predigen, wo man empfinden sehn will. Kurz, Herr Hagemann wird nie einem an Natur so gewöhntem, und durch Feinheit der Kunst eines Iffland, Fleck und einer Unzelmann, verwöhntem Publikum gefallen. Er mißfiel gleich stark, als Appiani, am 26. May, in Emilia Galotti, in welchem Stücke Appiani indeß bekanntlich zur heimlichen Freude der Zuschauer bald ermordet wird. Madame Unzelmann als Orsina, erweckte in mir den Wunsch, daß die übriggebliebenen ältern Verehrer Lessings und Eckhofs, welche — ohne die jetzigen Theater zu besuchen, a priori behaupten, es gäbe jetzo kein Theater, und nur Anno 1760, als sie noch in die Komödie gingen, und Eckhof ein Janusgesicht mit einer komischen und einer tragischen Larve zeigte, sey ein Theater gewesen — daß diese, sag ich, Madame Unzelmann als Orsina gesehen hätten, um mit einem mitleidigen Achselzucken zu gestehn: „Hm! Es ist toll genug!“ — Unterdeß die angespannteste Aufmerksamkeit, die größte Stille, und zuletzt ein dumoses Gemurmel des Beyfalls, das sich nur unwillkührlich in ein lautes Bravo ergoß, unterdeß die Beschaffenheit der heutigen Gesellschaft im Parterre, die eine Auswahl geistvoller Berlinischer Geschäftsmänner, Gelehrten und Künstler enthielt, zu beweisen schien, daß der Geschmack an Meisterstücken in Berlin noch nicht gesunken, und daß für die progenies vitiorosa im Jahr 1798 wenigstens Madame Unzelmann das non plus ultra dramatischer Darstellung ist. Vielleicht werden wir zu unsern Enkeln das sagen, was unsre Großväter jetzt von der Koch und von Eckhof zu uns sagen: Es gab doch nur eine Unzelmann!
Nationaltheater: Menschenhaß und Reue (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/200.
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