Oedipus zu Kolonos. Lyrisches Drama in drei Aufzügen, zur beibehaltenen Musik von A. Sacchini, aus dem Französischen übersetzt von C. Herklots. Es ist ein schweres Unternehmen „zu einer beibehaltenen (!) Musik“ einen lesbaren Text zu machen oder zu übersetzen; daher wollen wir im gegenwärtigen Falle nicht mit Hern. Herklots über seinen Text zu Sacchinis Oper rechten; nur, daß es uns zuweilen bei der Aufführung fast unmöglich schien, daß man mit den Noten und dem Text zugleich fertig werden könne. Dennoch wollen wir hoffen, daß der Text sich unter der Partitur besser, als gedruckt, ausnehme. Das hochtragische Süjet aus dem Alterthum ist bekannt; es ist in dieser Oper sehr einfach und gut behandelt worden. – Nur eine Bemerkung in Beziehung auf die Musik. Es findet sich nehmlich in der ganzen Oper kein Quartett; die schönste Gelegenheit wäre im dritten Auftritt des dritten Akts gewesen, wenn der Dichter den drei handelnden Personen Oedipus, Antigone und Polinices (der hier immer Polinenk heißt) den Theseus, als die vierte, hätte zugesellen wollen. Aber er hätte die Schönheit der Handlung selbst aufopfern müssen, nach welcher die Versöhnung durch Antigone aus dem Gemüthe der Handelnden selbst, ohne Dazukommen eines Fremden, entwickelt wird. Ein gewöhnlicher welscher Opernmacher würde für keinen Preis die Gelegenheit zum Quartett hingegeben haben. Aber der französische Dichter hat wohl gethan; denn die Musik ist wegen der Handlung, nicht diese wegen der Musik da. Der Komponist ist dem Dichter Schritt vor Schritt gefolgt. Alle unnützen Zierrathen und üppigen Auswüchse hat er mit vielem Bedacht hinweggelaßen, und seinen erhabnen Gegenstand durch eine ächt theatralische Musik unterstützt und verschönert dargestellt. Sey es auch, daß hin und wieder ein kräftigerer Ausdruck vermißt werde: so ist doch über das ganze Werk eine seltene Lieblichkeit verbreitet, und jeder sanfte, zarte Ausdruck des Dichters mit süßen und rührenden Melodien wiedergegeben. Man darf nur das letzte Terzett hören, um sich völlig befriedigt zu fühlen. Wir würden auch wohl thun, uns an diese einfachere Art von Musik zu gewöhnen, Unsre jetzige rauschende Orchesterbegleitung und übertäubenden Blasinstrumente kontrastiren freilich gar sehr mit diesem einfachen, bescheidenen Accompagnement, bei welchem die Blasinstrumente sich sanft an die Singstimme anschmiegen und sie freundlich unterstützen, statt sie niederzudrücken. Nur die Ouverture ist zu tadeln. Sie gleicht mehr einem ganz gewöhnlichen Allegro einer Symphonie, als einer Einleitung zu einer tragischen Handlung. Indessen haben die Italiener hievon andere Begriffe, als wir Deutsche; einestheils sind sie der Instrumental-Musik nicht so mächtig, wie wir; anderntheils wollen sie auch durch ihre Ouverturen selten etwas anders sagen, als: die Oper wird angehen! Die heutige Vorstellung war zugleich ein Fest auf unsrer Bühne, denn Madame Schick betrat sie, nach einer langen Krankheit, zum erstenmale wieder als Antigone. Sie ward bei ihrem ersten Erscheinen mir Auszeichnung und lebhafter, allgemeiner Theilnahme empfangen. Sie sang und spielte unübertrefflich schön. Ihre volle, runde und zarte Stimme hat nichts verloren, im Gegentheil, wie Kenner versichern, soll sie nicht nur durch den größeren Raum im neuen Hause, sondern an und für sich selbst nach ihrer Krankheit an Geschmeidigkeit und Zartheit gewonnen haben. Besonders in dieser Oper muß sie mit entschiedenem Beifall singen, da sie hier vorzügliche Gelegenheit hat, sich als vollkommne Meisterin der Kunst zu zeigen, das Rezitativ sprechend und richtig, ohne zweckwidrige Verzierung, als reine poetische Deklamation, mit Feuer und Kraft vorzutragen; in welcher sie einzig bleibt. Möge sie noch lange die Freude und die Bewunderung der Kenner bleiben! Eben so verdienen Herrn Gerns (als Oedipus) trefflicher Gesang und wahres Spiel, die ganze Darstellung, so wie die vortreffliche, präcise Execution des Orchesters eine ehrenvolle Erwähnung. Im ersten und dritten Akte wird auch getanzt, und zwar von einigen königlichen Operntänzern. X.
Nationaltheater: Ödip zu Colonos (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/220.
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