Madame Fleck hielt eine Rede von Herrn Herklots mit Anstand, ohne Prätension und mit Gefühl gesprochen. Hierauf Mariane, Trauerspiel von Gotter, nach dessen letzten Bearbeitung, und Gegenlist, ein Lustspiel von Düval. Ueber den Gehalt von Gotters Mariane als Dichtung ist durch frühere Wirkung auf allen Bühnen in so fern entschieden, daß das Stück sich funfzehn Jahre auf allen Repertorien erhalten hat. Die Bearbeitung des Verfassers hat bei aller Verdienstlichkeit nicht die Neuheit in das Trauerspiel gebracht, wodurch dasselbe hätte frappiren können. Die dramatische Litteratur hat eben jetzt eine Wendung genommen, welche das bürgerliche Trauerspiel ausschließt. Die Geschichte selbst, daß man ein Mädchen zur Einkleidung als Nonne zwingt, scheint in protestantischen Ländern bei dem Geist unserer Zeiten wenig glaublich. Bei der Regierung, unter welcher wir hier leben, sind die Rechte der Menschheit so gesichert, ist ein solcher Vorfall so durchaus undenklich, daß er auf der Bühne vorgestellt, übertrieben scheint, und deswegen geht der Zuschauer nur in das Interesse der Darstellung nicht in das der Handlung. Mariane, von Kindheit an im Kloster, hat nur ihre Mutter zur Vertrauten, als ein würdiger Geistlicher in den letzten Stunden vor der Aufopferung, ihres Herzens mit sanfter Gewalt sich bemächtigt, muß der lange verhaltene Gram im Strom der Empfindung mit dem Ausdruck der Verzweiflung diesen einzigen Helfer umfassen, der sich darbeut. Mad. Unzelmann spielte im ersten Akt mit einer Bemessenheit, welche diesen Zustand nicht darstellen konnte, und dadurch ging die hohe leidenschaftliche Erregung verloren, auf welche allein der zweite Akt gegründet ist. Als Meisterin gab sie den zweiten und dritten Akt. Den dritten vorzüglich mit jener Gewalt, die man tragischen Esprit nennen kann. Da der Zuschauer die Vorbereitung des ersten Akts missen mußte, so ward er nicht vor dieses große Bild geleitet, sondern gestürmt; er fühlte sich daher mehr überrascht und erschreckt, als überzeugt und gerührt. Die Sterbescene war ein Meisterwerk von Beachtungsgeist, Wirkung und Grazie. Herr Iffland als Präsident erfüllte die Beschreibung, welche der Prior von ihm giebt. Edelmann, ernster Geschäftsmann, treu seiner Politik, dem alten Kirchengeiste und der Ahnentafel, fest ohne Barbarei, Tyrann, ohne das seyn zu wollen. Herr Bethmann als Waller spielte die erste Scene mit der Präsidentin aus der Fülle einer jugendlichen Empfindung und Leidenschaft. Der ganze zweite kritische Akt, dieses meisterlich tragische Final, ward von allen Theilen vergriffen, also auch von Herrn Bethmann. Der Vater vergaß fast den Präsidenten, und Hofleute solcher Art vergessen nie, nicht im Tode, die Schranken der Dignität. Sie mögen diese verrücken, aber sie treten nicht ganz heraus. Mariane muß auch da den Nonnenanstrich behalten. Waller muß mehr Sohn und schmerzlich verzweifelnd Liebender sein, als drohender Offizier. Das Ganze muß eben so heftig bleiben; aber die Explosionen sollen eine hohe, helle, reine Flamme bilden, nicht Rauch und Qualm. Auch die Wuth des zärtlichen Schmerzes hat ihre Melodie, und die Verzweiflung selbst muß idealisch schön bleiben. Die hier im zweiten Akt waltete, war mehr laut als kühn, und schreckte mehr als sie erhob. Man kann nicht leugnen, daß der Akt mit großem Feuer gegeben ward, und dieses ist sehr verdienstlich. Allein das gezügelte Feuer ist die Vollkommenheit. So kann man auch hier sagen: »das Edelste ist das Beste, wenn es geräth; aber es geräth nicht immer.« – Die Präsidentin ist eine würdige Edeldame von der alten großen Welt, mit herzlicher Empfindung, unter dem Druck der Welt, welcher die Spitze zu bieten, diese wahrhaft fromme Ergebene den Muth nicht hat. – Sie ward nicht mit diesem Werth, sondern nur um etwas besser als eine tröstende Muhme gespielt, welcher der Jammer das Herz nicht engt, die nur im dritten Gliede den gewöhnlichen weiblichen Antheil nimmt. Herr Herdt als Geistlicher hatte vieles Verdienst um diese Rolle, und gab einige Stellen mit Feuer und Würde. Dennoch war der feste Ton gegen Marianen im ersten Akt nicht der milde Ton sanfter Ueberredung, welcher unwiderstehlich hinreißt. Eben deswegen, und um in eigenen Empfindungen Marianen näher zu stehen, wäre es, unbeschadet der Verdienstlichkeit des Herrn Herdt, für die Haltung des tragischen Gemähldes besser gewesen, wenn Herr Mattausch den Geistlichen hätte darstellen können. Die mehrere Jugend in Gestalt und Ton würde die Worte des Präsidenten: »er ist ein Neuerer, ein Enthusiast,« erfüllt haben. Es ist indeß anzunehmen, daß die Direktion in diesen Fällen durch Nebenumstände oft sich gehemmt sieht. Den Baron gab Herr Beschort mit Welt, und ohne ihn durch Ton und Miene ins Schlechte herüber zu zerren. Vor 20 Jahren galt dieser Charakter für einen schlechten Mann. Heut zu Tage wird man ihn in Masse auch so nennen, heimlich aber für konsequent erklären, da nach Prinzipien der Selbsterhaltung, wie sie nun gelten, dieser Baron noch weiter gehen dürfte. Dieses Charaktergemälde ist nun für abgeblaßt zu erklären. Der Prior ein Weltmann im Ministerblick höfischer Gewandtheit, dem Tone der Salbung und Verklärung ist eine feste Stütze der Hierarchie. Gelang es Hrn Böheim nicht, ihn in diesem Geiste darzustellen: so gab er ihn doch mit Anstand und hie und da mit Würde.
Nationaltheater: Mariane (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/253.
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