Iphigenie: Mad. Unzelmann
Thoas, König der Taurier: Hr. Iffland
Orest: Hr. Mattausch
Pylades: Hr. Beschort
Arkas: Hr. Labes
Iphigenia in Tauris, von Göthe,
als Benefiz für Madame Unzelmann.
Schon durch den bloßen Gedanken, dem Publikum
dieses Gewebe entzückendschöner Dialogen auf der Bühne zu geben, verdiente die
Künstlerin, die ihn hatte, das beinahe überfüllte Haus. Er ist äußerst
lobenswerth, nicht nur weil er dem Publikum einen seltenen Genuß verschafte,
auch weil er in vielen Rücksichten zur Berichtigung der herrschenden
Vorstellungen dienen kann. Es ist gut, das glänzende Verdienst den Augen des
Publikums so nah als möglich zu rücken: damit es, von der einen Seite, es ganz
schätzen lerne, von der andern, vor der Vergötterung desselben, gesichert
werde.
Den Werth dieses Gedichtes
auseinander setzen zu wollen, wäre sehr überflüssig: wer kennt die deutsche schöne
Literatur auch nur einigermaßen, und bewundert es nicht längst? Wer kann, wenn
er es einmal las, es je wieder vergessen? Wen entzückte nicht schon in der
Charakterschilderung Iphigeniens, das hinreißende Bild der edelsten, zartesten
Weiblichkeit? Wen bezauberte nicht die Reihe eben so lieblicher, als glänzender
Gemälde, die einander in diesem Werke so nahe folgen, und die volltönende
harmonische Diktion, mit welcher sie aufgestellt sind? Der einzige etwas neue
Gesichtspunkt, aus dem sich Iphigenia etwa noch betrachten ließe, wäre der,
ihres Verhältnisses zu eigentlichen dramatischen Werken. Sollte eine zweite
Darstellung statt finden, so wird man vielleicht hier darüber etwas sagen.
Die theatralische Ausführung
eines Gedichtes, wie Iphigenia, ist eine der schärfsten Proben, auf welche die
Talente und die Kunst mimischer Künstler gesetzt werden können. Berlin hat die
Berechtigung, auf seine Bühne sehr stolz zu sein, nachdem sie diese Probe glänzend
bestanden hat.
Mdme. Unzelmann selbst machte
Iphigenia. Sie nahm die Rolle nicht ganz so hoch idealisch, als sie genommen werden
kann; sie gab nicht sowohl die erhabene Tugend-Schwärmerin, die nur durch die
sorgfältigste Wachsamkeit über sich, ruhige Haltung gewinnt, als die edle,
reine, großdenkende Frau, und dabei gewann die Darstellung gewiß. Iphigenia flößt
so viel zartere Theilnahme ein. Mit der lieblichsten, rührendsten Modulation
der Stimme, mit der richtigsten Deklamation und dem Minenspiel einer Grazie,
sprach sie ihre schöne Rolle. Das Detail des Costüme, so lang’ es nicht zu große
Verstöße enthält, und die geschmackvollen Damen es selbst wählen –, ist nicht
leicht Gegenstand des Kunstrichtens; wenn aber das Stück so wichtig ist als die
Iphigenia und das Costüme sich zu offenbar von dem guten Geschmack entfernt, so
hat die Kritik darüber mitzusprechen. Iphigeniens Putz war aus grellen Farben
zusammengesetzt, die Stickerei ihres Kleides nach dem Ausspruch einer sehr
geist- und geschmackvollen Autorität, – geschmacklos. In Paris (und so auch in
Weymar, unter den Augen des Verfassers) tritt Iphigenia in einer ganz weißen,
mit Silber gestickten Tunike auf, mit einem eben so verzierten Schleier und
ohne Haarschmuck. Ob dieses nicht in edlerm Geschmack ist, als eine
dunkelfarbigte, sammtene Haarbinde, ein Purpur-Schleier und eine farbigte
Stickerei in weißem Kleide? – Iffland ließ uns im Thoas den schmucklos-edeln,
kraftvollen Mann erblicken, und verdiente vorzüglich dadurch Bewunderung, daß
er, ohne irgendwo Rauhheit zu zeigen, überall anzudeuten wußte, daß sein großherziges
Betragen ein mühsam erkämpfter Sieg über angestammte Rauhheit sei. – Herr
Beschort als Pylades sprach und spielte meisterhaft. Er hat überhaupt die
leichte und doch feste Haltung, welche edle Charaktere dieser Art fordern, ganz
in seiner Gewalt, aber nirgend hat er sie schöner angewandt und gezeigt, als hier.
Ueberall stellte er den wohlgemutheten, freien, aber zugleich kräftigen Sinn
dar, der für die tiefsten Gefühle Empfänglichkeit hat, aber sich selbst in
keinem derselben verliert. – Herrn Mattausch fehlt noch die Gewalt über sich
selbst, sich immer zu stürmischer Bewegungen zu enthalten, wo sie nicht
gefordert werden: aber dieses abgerechnet, sprach und spielte er den Orest sehr
gut. – Das Einzige, was den Genuß der Darstellung einigermaaßen störte, war, daß
der Pastor aus den Jägern den unpriesterlichen Einfall gehabt, sich in den
Scythen Arcas zu verkleiden.
R.
Iphigenie: Mad. Unzelmann
Thoas, König der Taurier: Hr. Iffland
Orest: Hr. Mattausch
Pylades: Hr. Beschort
Arkas: Hr. Labes
Die Beurtheilung der ersten
Darstellung dieses Stückes hat dem Verfasser derselben die Rüge zugezogen, er
sei zu schonend verfahren. Ein Vorwurf dieser Art ist ihm zu neu, als daß er
ihn nicht mit Vergnügen schweigend ertragen würde, läge nicht eine
Ungerechtigkeit gegen sehr verdienstvolle Künstler darin. In dieser Rücksicht hält
er es für Pflicht, sich nach der zweiten Darstellung zu rechtfertigen. – Man
hat Ifflands Ausführung des Thoas zu civil und weichlich gefunden: ein
Scythen-König, meint man, hätte rauher, tobender erscheinen müssen; – aber man übersieht
bei diesem Vorwurf, wie der Dichter diesen Scythen-König gemalt hat, daß ihm
der ganze Karakter völlig verunglückt ist. Thoas hat die unbekannte Jungfrau gütig,
menschenfreundlich aufgenommen, sie seit einer langen Reihe von Jahren mit der
ausgezeichnetesten Ehrfurcht, so sorgfältig behandelt, daß sie ihn ihren
zweiten Vater nennt; er ist ein sehr edler Mann. Er hat auf ihre Vorstellung
die Menschenopfer eingestellt. Jetzt wirbt er um ihre Hand, und da sie ihm
diese abschlägt, will er die Opfer wieder einführen: er ist ein niedriger,
rachsüchtiger, ein schwacher Mensch. Hatte Iphigenia ihn durch Gründe bewogen,
den unmenschlichen Gebrauch abzuschaffen, so galten diese Gründe noch. Hatte
sie ihn blos durch zärtliche Bitten einer Sitte untreu machen können, die er für
heilig hält: wie schwach! Hält er diese Sitte nicht für heilig und nothwendig:
wie gemein, sich für eine Abweisung auf Kosten unschuldiger Fremdlinge, durch
ihre Herstellung rächen zu wollen! – Er entdeckt, daß Iphigenia entfliehen
will; die Fremdlinge, die sie ihm entführen wollen, gerathen in seine Hände: er
hat die Gewalt über sich, ihnen zu verzeihen, ja die Geliebte selbst, um ihres
Glückes willen, hinziehen zu lassen. Der große, edle Mann! ruft man aus; – aber
wenn man sich erinnert, daß es eben durch diese edle Handlung völlig bestätigt
wird, er halte das Menschenopfer nicht für ein unverbrüchliches Gesetz, er habe
sie nur aus gemeiner Rachsucht wieder einführen wollen, so begreift man nicht,
wie ein und derselbe Mann in zwei so völlig verschiedenen Weisen handeln kann,
– wenn der darstellende Künstler nicht aus ihm einen fast empfindsamen Schwächling
macht, der von dem augenblicklichen Eindrucke abhängt. Ein Mann der im Zorn
seinen ganzen Edelmuth vergißt; bei sanftem Zureden völlig seine Wildheit
verliert, ist auf jeden Fall kein starker und Iffland hat mit seinem gewöhnlichen
Scharfblick das einzige Mittel ergriffen, überhaupt einigen Zusammenhang in
diesen Karakter zu bringen, der wie die Bildsäule, die Belsazer im Traume sah,
aus Gold und Thon zusammengesetzt ist. –
Man hat das Lob zu groß
gefunden, das Herrn Beschort ertheilt wurde: »er habe nicht Würde genug
gezeigt.« Würde? Dem Einsender schwebte wahrscheinlich der Pylades des
Alterthums vor, jener hochherzige Jüngling von hohem Geist und Werth, der alles
aufopferte, um mit dem unglücklichen Freunde auch das höchste Elend zu theilen.
Er übersah, daß der Pylades dieses Stückes ein geschmeidiger Attaché ist, der
sich’s gar nicht denken kann, was aus ihm geworden wäre, wenn sein Prinz nicht
lebte; der die Schmeichelei so weit treibt, dem Muttermörder zu sagen, »er
solle den Göttern danken, daß sie so früh durch ihn so viel gethan;« der der
theilnehmenden Priesterin ganz ohne Noth eine Lüge sagt, denn warum er aus dem
Muttermörder einen Brudermörder, aus dem Königssohn Orest einen Königssohn
Laodamas macht, leuchtet gar nicht ein, – wenn er es nicht etwa thut, um eine
interessante Erkennungsscene einzuleiten. – Herr Beschort brachte grade so viel
ruhige Würde in diese Rolle, als sie verträgt.
Den Tadel des grellen Costüme’s,
in welchem Iphigenia auftrat, billigte man um so mehr, da eine gewisse ganz weiße
Kleidung, die man als unzertrennlich von dieser Rolle, betrachtet, ganz
bestimmt à l’Iphigénie genannt wird. Aber gerade in diesem Punkte hat der Verf.
große Lust, sein Urtheil zu mildern. Das Publikum muß in der theatralischen
Person die Schauspielerin vergessen, aber – dieser kann man es nicht übel
nehmen, wenn sie auf ihre Persönlichkeit Rücksicht nimmt. Wie wenn Mdme
Unzelmann lieber die Iphigenia etwas inkorrekt, als nicht gefallend geben
wollte? Hätte sie nicht Recht gehabt?
Die zweite Darstellung war so
trefflich, als die erste, ja in mancher Rücksicht noch besser. Mdme Unzelmann
sprach noch kräftiger und edler als das erstemal. Herr Mattausch wachte strenge
über sich, nicht zu viel durch den Körper zu sprechen, und das allein hatte
gefehlt, um seine Darstellung durchaus schön zu machen; – Herr Labes endlich,
als Arkas, sprach mit freierer kräftigerer Modulation der Stimme als das
erstemal –
Der Beurtheiler hat
versprochen, etwas über das Verhältniß dieser bewundernswürdigen Dichtung zu
den wirklichen Dramen zu sagen. Er hatte die Absicht darüber ausführlich zu
reden: aber da schon bei der zweiten Aufführung das Haus ziemlich leer war, muß
er befürchten, einem großen Theil des Publikums durch weitläuftige Erörterung
einer abgemachten Sache, lästig zu werden. Er begnügt sich also, eine einzige
Bemerkung aufzustellen.
Das Wesen des Dramas besteht eigentlich in der
Handlung: das heißt, wir müssen in demselben eine Begebenheit durch einander
bekämpfende Gefühle und Leidenschaften einleiten, verwickeln, fortführen, –
endlich auf eine befriedigende, erhebende Weise vollenden sehn. Von allem
diesem trift man in der Iphigenia nichts an. Orest findet seine Schwester in
einem fremden Lande; er will sie heimführen: seine Absicht wird entdeckt, aber
sie beredet den König, sie gleichwohl ziehen zu lassen. Das ist ein ganz
einfacher Vorgang, der gar keine Verwickelung hat, der durch keine einzige
Leidenschaft motivirt wird. Ja, es ist gar keine Leidenschaft in dem ganzen Stücke:
denn dem gelassenen, kaltblütigen Wunsch des Königs, Iphigenien zu heirathen,
wenn sie keine Gelegenheit finden sollte, nach Hause zu reisen, gebührt dieser
Name nicht; und die einzige Verwickelung, was nehmlich über die Bildsäule
Dianens zu beschließen sey, fließt nicht aus einer Leidenschaft, sondern aus
einem Mißverständnisse her, und wird den Augenblick durch die Entdeckung gelöst,
daß das Orakel wieder einmal ein schlechter Stiliste gewesen, die Schwester,
statt deine Schwester gesagt habe. – Die ganze Oekonomie des Stückes ist darauf
berechnet, eine Reihe hinreißend schöner Erzählungen und Reden einzuleiten und
sie ohne zu ermüden, mittheilen, und halten zu lassen. Sie sind entzückend,
diese Erzählungen und Reden: aber ihr Gewebe bildet kein Drama.
Am 18ten Januar hielt die kalte Witterung überall an. Vor der Bühne klappte eine sehr kleine Anzahl Menschen mit den Zähnen, und auf derselben wiederholte man zum zweitenmale Göthens Iphigenaia in Tauris.
R.
Nationaltheater: Iphigenie auf Tauris (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/273.
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