Eins von den großen Stücken, die es beweisen, daß die dramatische Poesie bei den Franzosen eine Reife erlangt hatte, nach der wir erst hinstreben, - und die wir, wenigstens in Einer Rücksicht, vielleicht nie erreichen. – Von dem zauberischen Wohlklange der Verse des Originals, ist in dieser Uebersetzung fast keine Spur geblieben: sie giebt unleidliche Härten, wo jenes die lieblichste Melodie hat. Doch von ihrem Werthe – oder Unwerthe, - in einem der nächsten Blätter [...]. [Es folgt die Besprechung der schauspielerischen Leistungen]
Eingesendeter Brief an den Redakteur. / Mein Herr! / Tancred gehörte von jeher zu den Dichterwerken Voltairens, die mir am theuersten waren und die ich oft, sehr oft wieder las. Mit lebhafter Freude begab ich mich daher lezthin ins Schauspiel: eine der schönsten Schöpfungen, die je meine Phantasie beschäftigt hatte, sollte vor mir verwirklichet werden! – Aber ich fand Misvergnügen, statt Genuß, Aerger statt Rührung. Sie hatten Recht, Ma[da]me Fleck mit Wärme zu loben, denn sie spielte in der That vortrefflich – doch, ach! was hat Göthe aus Voltairens Meisterwerk gemacht! Ich glaubte eine Frauenzimmer, das ich als reizende, siebenjährige Schönheit verlassen hatte, als runzlichtes Großmütterchen wiederzufinden. So bald ich zu Hause war, grif ich nach dem Original, um jenes widerliche Bild aus meiner Seele wegzuschaffen, und tröstete mich, wenigstens hier noch unverändert zu finden, was mich so oft entzückt hat. Am folgenden Morgen erhielt ich das Blatt des Freimüthigen, in welchem die Uebersetzung beurtheilt wird. Ich durchlief es mit einer Art von rachgieriger Freude – aber ich muß Ihnen gestehen, es hat mir nicht Genüge gethan. Die Beurtheilung ist gut geschrieben und enthält manchen witzigen Gedanken: aber gerade die Hauptsache läßt sie unberührt. Es ist wahr, Göthens Verse sind schlecht, er hat sogar oft den Sinn verfehlt: aber das sind noch die kleinsten Versehen, die er gegen den unsterblichen französischen Dichter beging: er hat die Charaktere verdorben, verfälscht, zur Gemeinheit herabgewürdigt, - und das konnte der freimüthige Beurtheiler übersehen? [...] / D - n
Nationaltheater: Tancred (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/274.
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