Goldoni wollte der Ueberspannung entgegen arbeiten, die Pietro Chiari durch seine Trauerspiele auf dem Italienischen Theater eingeführt hatte; er verfiel aber in den entgegengesetzten Fehler, und gab in seinen Stücken gar zu gemeine Natur. Er hatte einen schnellen und richtigen Blick, um das Komische im wirklichen Leben aufzufassen, und zeichnete es lebhaft und glücklich nach, aber mehr zu leisten, zu schaffen, ja nur eigenthümlich zu componiren, vermochte er selten oder nie. Man könnte ihn einen dramatischen Portraiteur nennen. – Dieser Lügner ist eines seiner mittelmäßigsten Stücke. Nichts ist darin zweckmäßig berechnet, nichts durch Motive eingeleitet und ausgeführt. Lelio bringt sich durch unaufhörliches Lügen um die Achtung aller, um die Liebe seines Vaters, um sein Vermögen, und die Hand seiner Geliebten, um Alles, und man sieht gar nicht, warum er lügt? Er hat weder eine gute, noch eine böse Absicht dabei; es ist bloß eine nur leichtsinnige Gewohnheit, die fast zu hart bestraft wird. Die Handlung des Stückes schleppt unerträglich, und nur das Vergnügen, Hrn. Opitz zu sehen, verschaffte am heutigen Abend Genuß. Dieser trefliche Künstler bewies in jeder Scene, daß er scharfen Beobachtungsblick für die Aeußerungen im wirklichen Leben, mit langem Studium der Kunst, und insbesondere dieser Rolle, verbindet. Er zeigte eben die Gewandheit, durch die er das Publikum vor einigen Tagen im Schwätzer so sehr vergnügte, doch heut äußerte sie sich ganz anders nüancirt. Als Schwätzer trat er mit entschiedener Süffisance auf, und man sah es jeder Gebärde an, daß er zwar ein Praler sei, aber mit bestimmtem Ernst und Zuversicht prale; als Lügner ließ er bei jeder Miene, jeder Gebärde durchblicken, daß es ihm nicht Ernst sei, mit den Erzählungen, die er vorbrachte, und mit den Empfindungen, die er nach den einzelnen Lagen, in die er gerieth, äußerte. Immer hatte sein Benehmen, auch wenn er den Gerührten spielte, einen leichten Anstrich von Ironie: wenn man auch nicht gewußt hätte, daß er Lügen sagte, man hätte es selbst aus der Art, wie er das Knie bog, wie er bei den Betheurungen die Hand auf die Brust legte, und so weiter, erkannt. – Kurz, wir hatten den Genuß zu sehen, was aus der Darstellung eines Charakters wird, wenn ein Mann von vorzüglichen Talenten, sie eine lange Reihe von Jahren hindurch studiert hat. Das Stück werden wir wahrscheinlich nach Hr. Opitzens Entfernung nicht wieder sehen, aber die treue, feine, bis im kleinsten Detail wahr nüancirte Ausführung eines Charakters, die er uns zeigte, verdient sehr lange nicht vergessen zu werden, – vorzüglich nicht von den meisten Gliedern unserer Bühne. – Hr. Reinwald machte den Bedienten des Lügners mit Sorgfalt, aber es gelang ihm nicht, eine gefällige Karikatur zu schaffen. Herr Böheim führte den Vater des Lelio recht gut aus, besonders da, wo er väterliche Freude über die vermeinten Vorzüge seines Sohnes zu zeigen hatte. – Mdlle. Eigensatz spielte Rosaura sehr brav, Mdlle. Mebus die Beatrice, so, daß man wohl sah, es fehlt ihr nur an Aufmunterung und freundlichem Rath, um der Bühne bedeutend zu werden. Auch Mdme Schwadke, als Kammermädchen, spielte lebhaft und weniger spitzig, als gewöhnlich.
Nationaltheater: Lügner, Der (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/286.
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