In diesem Werke redet der Geist den Erden-Pilger an, wie einst die Stimme aus dem feurigen Busche erschollen ist. Wer dieses Gedicht eigen besitzt, mag aus der Fülle der Kraft, aus dem Schatze der Menschenkunde und Lebenserfahrung, Begründung, Führung und Erhebung nehmen, wie aus einer Hausbibel. Die Geschichte unserer Tage ist in diesem Gedicht dramatisch behandelt, und wie das Regen und Treiben des Geistes der Zeit entfaltet ist, wie der tiefe Sinn das erst Vergangene in eine Summe ordnet, und auf das Nächstkommende deutet; so steht das Ganze wie eine Prophezeihung ernst und feierlich vor der Seele des Hörers! Wie viel man sich auch jetzt in allen Klassen mit Politik befaßt, so haben doch nur Wenige einen Überblick der Begebenheiten; die meisten sind bei einzelnen Thatsachen stehen geblieben, sind von diesen irregeführt, und durch kein Resultat ins Klare gekommen. Man darf annehmen, daß dieses Gedicht, und die Folgen, welche dasselbe nothwendig macht, aus dem Sturme der Meinungen und Selbstsucht zu einem festen, beruhigenden, wohltätigen Resultat führen sollen. Ob politische Schauspiele überhaupt wirken, ob ein deutsches Publikum leicht und gern in ein solches Interesse eingeht? daran ist fast zu zweifeln. Wir sind an deutliche Geschichte in einer Folge von Begebenheiten, welche vor unsern Augen vorgehen, gewöhnt; wir verlangen Zeitvertreib, Witz oder Rührung – Unterhaltung der Sinne. Wir sind verwöhnt an breite, prunkende, donnernde Helden; wo Spieße, Felsen, Glocken, Zugbrücken, Harfen, Leichen, Märsche, Mondschein, Federbüsche, lange Liebe, Humpen, Verzweifelung und vorgeschnittne Epigramme uns aufrütteln, wach erhalten, und die Empfindung so oft anschlägt und wieder anschlägt, bis endlich ein minder bedeckter Nerve getroffen wird, der dann die Zuckungen treibt, in welchen die Masse das Vergnügen findet. Der gediegene Verstand in seinem Schimmer der Empfindung ergreift die Einzelnen, erfüllt und befriedigt sie. Das Nachsinnen, die Vereinigung einzelner Züge in ein Ganzes erhebt sie zu Mitarbeitern des Dichters, und vermehrt den sanften Genuß der Imagination. Eben darin aber, daß die meisten ohne Mitarbeit empfangen wollen, darin liegt es, daß Schauspiele wie die natürliche Tochter, Egmont und Iphigenia nur auf einen ausgesuchten Zirkel wirken und nicht auf die Menge. Mag denn die Menge diesen vorübergehen und den Wenigen ihren stillen Genuß ruhig lassen, wenn jene die Billigkeit beobachten, das, was auf die Mehrheit wirkt, in Frieden dahin gehen zu lassen, ohne den Genuß einer achtbaren Klasse, die nicht so fein besaitet ist und sein darf, durch Witzeleien oder Spott zu verkümmern. Die Bitterkeit, womit ein Theil dem andern seine Langeweile in Rechnung bringt, erzeugt den Partheigeist, welcher heut das Volksvergnügen stört und morgen den feineren Sinn der gebildeteren Klasse trübt. Nimmt man nun noch an, daß das feine Gewebe der großen Welt einer sehr geringen Zahl nur faßlich ist, daß das Treiben der ungemessenen Ambition für Viele widerwärtig ist, wie der Anblick überwachter Menschen; so ist die Stimmung leicht erklärbar, welche während der Vorstellung der natürlichen Tochter hin und her schwankte. Dieses Schauspiel enthält eine lebendige Charakterschilderung, nicht aber einen lebendigen Gang der Begebenheiten. Es fordert bemessene, getragne Sprache, indem der ausgewählte Hörer dadurch befriedigt ist, wird der gewöhnliche Hörer dadurch aufgehalten, und nennt das Stück zu lang. Nach der großen Wahrheit »Durch Trauern wird die Trauer zum Genuß« wiederholt der tiefe Kummer Ideen, Bilder und Worte in mancherlei Gestalten. Diese treue starke Einheit, womit der Seelenmaler das Heiligthum der Empfindung ausstellt, ist keinesweges ein Einerlei, aber es wird begreiflich, wenn die Menge es dafür hält und ausruft: »zu lang!« – Die Eigenthümlichkeit des Versbaues erschwert dem Schauspieler den Vortrag, und was dem Hörer schwer zu fassen ist, verwechselt er leicht mit dem, was zu kostbar genannt wird. Der Drang der Verhältnisse, welche in den beiden letzten Akten die verfolgte Eugenia bestürmen, kann im Lesen, wo die Phantasie von all dem Drängen und Treiben der großen Hafenwelt umgeben ist, mehr und sehr bestimmt auf den Punkt hinwirken, als bei der Darstellung, wo das Bild dieser Unruhe nicht gegeben werden kann, ohne die feinere Handlung aufzulösen, und wo gleichwohl, eben weil es nicht gegeben werden kann, eine Lähmung, ein Stillstand über das Ganze ausgebreitet ist. Die Einzelnen, bei den Eugenia Hülfe sucht, werden wirksam und interessant, wenn man sie aus der Volksmasse herauswählt. Ist die Bühne leer, und sieht man Schiffe ohne Leben, einen großen Platz ohne Hafengewühl: so werden alle diese Einzelnen, die nach und nach auftreten, angeredet werden, antworten, gehen um wieder neuen Antwortern Platz zu machen, zu Spatziergängern herabgesetzt, beschäftigen als Einzelne die Aufmerksamkeit zu viel, und entfremden von der Hauptsache. Diese Zerstreuung der angespannten Masse, die von dem Genius so lange schon in Respekt gehalten worden ist, wirkt fast gewöhnlich nachtheilig. Ein einziges Lächeln, welches hörbar wird, theilt sich elektrisch mit, und wenn es niedergedrückt wird, artet es aus in üble Laune.
Während ein Theil der Versammlung ganz im Genuß des Meisterwerks lebt, und durch jede Störung des stillen starken Mitgefühls empfindlich verletzt wird, läßt die Unbehaglichkeit der Langeweile Unruhe entstehen, die nach dem Maaß bedeutend wird, worin die Selbstliebe empfundene Langeweile als wohlgegründet geltend machen möchte. Die Unbefangenheit ist dahin, der Krieg der Meinungen beginnt; ein Sektirer darf nur den Stock auf den Fußboden aufstoßen, so ist, da mit Scharren und Pochen am leichtesten wie am lautesten abgeurtheilt wird, der Bilderstürmerkrieg auf dieses Zeichen im feurigen Gange. Der heiligste Name schützt nicht vor diesem Anfall. Bildsäulen und Denkmahle sind bei uns mehr als bei andern Völkern der Verstümmelung ausgesetzt, und es mag eine Kraft bedeuten sollen, daß die Namen großer Männer auch für Rohheit nicht schützen können. Es gab eine Zeit, wo es anders war, und man darf glauben, daß der wohlthuende Sinn für das Schöne die edelere Sitte wieder zurückführen werde. Wenn der Verfasser sich nicht an die Regeln hat binden wollen, welche der Effekt des Schauspiels fordet, weil diese Regeln den Flug des Genies hemmen, und dem Sinn, den er verbreiten will entgegen stehen, so wird man ihm die Form erlassen, und das große Gedicht mit Verehrung empfangen, was von der Fülle seiner Kraft ausgegangen ist. Die erste Vorstellung der natürlichen Tochter bewieß das ernste Nachdenken der Künstler, ihren Fleiß und ein erhöhtes Bestreben, dem Genius, der hier waltet, eine Feier darzubringen. Fast alle waren in ihrer besten Stunde ans Werk getreten. Die Sorge, nichts zu überschreiten, veranlaßte hie und da eine unsichere Ausführung. Die zweite Vorstellung war sichrer, hatte mehr Verbindung und enthielt mildere Übergänge. Man hat das Wagestück begangen, das Schauspiel bei der zweiten Vorstellung etwas abzukürzen. Überhaupt ist das schwerlich zu rechtfertigen; hier that es indeß eine gute Wirkung. Die schwere Rolle der Eugenia führte Madame Fleck, besonders das Zweitemal, sehr liebenswürdig aus. In gleichem Grade, Mädchen und Heldin, kindlich und erfahren, Tochter der Natur und Dame beschäftigt mit Vaterlandsschicksal und der äußern Umgebung des schönen Mädchens – erscheint Eugenia mehr frappant als anziehend. Unter Vielen würden nur Wenige diese Eugenia zu dem Mädchen Ihrer Gedanken machen. Die Phantasie des Lesers kann diesen Charakter genau sich darstellen, ohne daß er verliert. Wollte die Schauspielerin ihn ganz genau darstellen, so würde er an Interesse abnehmen. Die Künstlerin berührte die Grenzscheidungen nur leise, und gab die Auflösung des Ganzen, von schöner Natur geleitet in holder Liebenswürdigkeit. Hr. Iffland gab den Herzog mit dem Benehmen der großen Welt und mit tiefer Empfindung. Hr. Mattausch den König mit Würde ohne Prätension; mit Gefühl ohne Weichlichkeit; mit der ruhigen Wärme eines edlen Herzens, und mit einem so einnehmenden Anstande, daß er dafür das lebhafteste Interesse einflößte. Madame Schick leistete die Hofmeisterin in feinem, anständigen Benehmen, in Vorsorge, Unruhe und Liebe auf sehr verdienstvolle Weise. Der Ton war hie und da weinerlich, wo er Besorgniß, Unruhe und Ahndung in gehaltener Gedankensprache ankünden soll. Hr. Bethmann, als Gerichtsrath, gab diese Rolle mit Wahl und Nachdenken. Der ruhige Ernst, worin dieser Charakter vorgetragen werden muß, verleitete ihn bei der ersten Vorstellung zu einer gewissen Eintönigkeit, welche er bei der zweiten Vorstellung durch Mischung von sanfter Empfindung und lebendiger Herzlichkeit sehr glücklich vermieden hat. Hr. Schwadke, als Sekretär, gab dieser Rolle Bestimmtheit und eine feine Accentuation. Ohne Anmaßlichkeit zu befürchten, darf jedoch etwas mehr Übergewicht hervorstechen. Hr. Bessel, als Geistlicher, sprach mit Leben und Empfindung. Am äussern Vortrage vermißte man die Ruhe, welche auch den Stand charakterisirt.
Die natürliche Tochter, Schauspiel in 5 Aufz. von Göthe, und zwar mit
ungetheiltem, lebhaftem Beyfall, der sich erhalten und steigen muß, wenn
der etwas schwer aufzufassende Sinn und Charakter des Stückes wird
geläufiger geworden sein.
Bei genauer Prüfung möchte
sich wahrscheinlich ergeben, daß dieses Schauspiel das originellste und
trefflichste Werk ist, mit welchem der berühmte Dichter seine Nation noch
beschenkt hat; auf jeden Fall ist es das erste große, und tiefbedeutende
Kunstwerk, zu dem der Stoff, oder der Geist vielmehr, aus den furchtbaren
Ereignissen, die zehn Jahr hindurch alle Welttheile erschütterten, mit echt
genialischer Kraft abgezogen ist.
Göthe, sagt man, – und schon
bei geringer Aufmerksamkeit zeigt sich, daß es wahr ist; – legte in dieses Werk
die Resultate seiner Beobachtungen und seines Nachdenkens während der und über
die Revolution, ihre Ursachen u.s.w. nieder. So wurd’ es
ein Gemälde, an welchem der dunkle Hintergrund die Hauptsache ist: die
Gestalten, die aus ihm hervortreten, und sein Inhalt scheinen, sind nur da, um
jenen kennen zu lehren. – Wir sehen in diesem Schauspiel die Schicksale eines
jungen, edlen, anziehenden Mädchens, das in eben dem Augenblicke, da es mit
hochstrebendem Geist und jugendlicher Begier über die Erreichung des höchsten
ihm denkbaren Zieles jubelt, hinabgeschleudert wird an den Rand eines
Abgrundes, und sich nur dadurch von dem Sturz in denselben zurückhalten kann,
daß sie auf alles das Verzicht thut, worin ihrem schwärmerisch-ehrgeizigen Sinn
das Glück des Lebens zu liegen schien. Doch nicht sie ist die Haupterscheinung,
um die es dem Dichter zu thun war: sie giebt ihm nur Gelegenheit das
Hippokratische Gesicht eines Staates zu malen, der bei allem äußern Anschein
des Wohlseyns, seiner auflösenden Zerrüttung entgegen schwankt, – und die
verzerrte Gestalt der Moralität, in einer ausgearteten bürgerlichen
Gesellschaft. Zu diesem Zwecke sehen wir die edle Eugenia einer im Dunkeln
schleichenden Cabale, trotz der unbegränzten Liebe ihres mächtigen Vaters, und
selbst trotz dem Schutz ihres guten, erhabendenkenden Monarchen, erliegen; –
deshalb der schreiende Contrast, den man in diesem Stücke zwischen den
Forderungen der reinen Menschengefühle und den Geboten der verschrobenen
Convenienz, erblickt. Es ist ein hohes, ernstes, inhaltschweres Lehrgedicht,
voll tiefen Sinnes. Um es aber als ein solches zu beurtheilen, muß man seine
Vollendung durch die beiden versprochenen Fortsetzungen, erwarten. Wir sahen
diesen ersten Theil auf der Bühne: und wir dürfen uns vorjetzt nur daran
halten, was er als Drama ist.
Seine Fabel ist einfach. Die
natürliche Tochter eines Herzogs soll durch Legitimation in die fürstlichen
Rechte ihrer Eltern eingesetzt, der Familie ihres Monarchen einverleibt werden:
da wird sie durch die arglistigen Ränke ihres Bruders entführt, und, indeß man
ihren Tod selbst ihrem Vater gewiß zu machen weiß, gezwungen, durch die Heirath
mit einem Bürger, jener hohen Sphäre, dem Anschein nach auf ewig, zu entsagen.
Ob dieses Ereigniß interessant seyn würde, oder nicht, hing von der Handlung
ab, durch die es herbeigeführt wurde.
Die Handlung ist reich an großen
Motiven, an erschütternden Situationen, doch sehr viel bleibt in derselben
dunkel, verworren, unauflöslich. Das mußte geschehen, da der Dichter die
Spannung des Interesse aus diesem ersten Stükke in seine Fortsetzungen hinüberführen
wollte. Es kann daher für das ganze Werk eine echt künstlerische Maaßregel
seyn: aber man muß gestehen, daß es diesem ersten Theil sehr viel
Unbefriedigendes giebt.
Die Charaktere sind mit jenem
umfassenden Blick, mit jener festen Meister-Hand entworfen, die Göthen zu dem
ersten, größten Seelenmaler machen, den die Deutsche, und, Shakespear
ausgenommen, die neue Literatur des ganzen Europa, besessen hat. Jeder
Charakter ist ganz, rein und kräftig aus dem Leben aufgefaßt, und als Kunstwerk
ausgeführt, ohne über die Wahrheit hinweg idealisirt zu seyn. Kein einziger
steht als Repräsentant irgend eines einzelnen Lasters oder einer einzelnen
Tugend da, aber in jedem erkennen wir die allgemeinen Züge einer besondern
moralischen Gattung, bis zur höchsten Lebendigkeit individualisirt. Indeß der
liebevolle, unglückliche Vater in dem Herzog innig rührt, erblickt man zugleich
in ihm den edlern Staats- und Hofmann, dessen Geist zwar in den Netzen der
Staatsverhältnisse und der Politik befangen liegt, dessen Herz sich aber sein
Gefühl rein und empfänglich erhalten hat. – Eugenia ist ein glänzend schönes
Gemälde zum Romantischen hinaufgestimmter Weiblichkeit, die in ihre
Geschlechts-Sphäre zurücksinkt, sobald der Anlaß dazu sie unvorhergesehen
beschleicht. Der Weltgeistliche schließt uns das Entstehen und das Innere jener
nur zu zahlreichen Klasse von Menschen auf, die sich selbst an ihre
Gewohnheiten und Bedürfnisse verloren haben, und eben deshalb fähig sind, Alles
zu unternehmen, weil ihnen die selbstständige Kraft fehlt, ihren eignen Sinn
geltend zu machen. In allen Personen wird man so in dem Individuellen zugleich
das Allgemeine umfassend dargestellt finden, sobald man es beachten will.
Die einzelnen Situationen
scheinen willkührlich nicht sowohl herbeigeführt, als hingestellt: aber der
Dichter ist dafür nirgend in den, sonst in berühmten und mit Recht bewunderten
dramatischen Werken, so häufigen Fehler gefallen, sie zu Deklamationen und
prunkenden, kalten Gemälden zu mißbrauchen. Er läßt in jeder nur die
Empfindungen und Gedanken hören, die sie in der Seele der handelnden Personen
nothwendig hervorbringen mußte: und sie werden schön und kraftvoll ausgedrückt.
Nur sehr wenige Schilderungen hat er gegeben, und jede scheint so durchaus nur
ein ausgemaltes Gefühl, daß man sie auch mehr empfindet, als betrachtet. Wenn
z. B. der Herzog, als er erfährt, daß der Leichnam seiner Tochter für das
Aufbehalten zu sehr entstellt und verstümmelt ist, und ohne Rettung der
Verwesung überlassen werden muß, ausruft:
»O, weiser Brauch der Alten,
das Vollkommne,
Das ernst und langsam die
Natur geknüpft,
Des Menschenbilds erhabne Würde,
gleich
Wenn sich der Geist, der
Wirkende, getrennt,
Durch reiner Flammen Thätigkeit,
zu lösen.
Und wenn die Glut, mit
tausend Gipfeln, sich
Zum Himmel hob und, zwischen
Dampf und Wolken,
Des Adlers Fittig, deutend,
sich bewegte:
Da trocknete die Thräne;
freier Blick
Der Hinterlaßnen stieg dem
neuen Gott
In des Olymps verklärte Räume
nach!«
So geht diese Aeußerung so natürlich aus seiner Lage und den Wünschen,
die sie ihm einflößen mußte hervor, daß man erst spät in ihr eine Betrachtung
erkennt, und diese wiederum abgesondert prüfen muß, ehe man gewahr wird, daß
sie in ein schönes Gemälde verkörpert wurde.
Der Dialog wird zuweilen
durch verwickelte Construktion und durch die Länge der Perioden, schwer, aber
er ist edel und kraftvoll.
Mit allen diesen Vorzügen
konnte das Stück auf der Bühne keinen allgemeinen Effekt thun, weil – die
dramatische Form zu sichtbar nur die Maske der philosophisch-politischen
Absicht ist, und weil natürlich ein Theil nicht die Befriedigung gewähren kann,
die der Dichter erst durch das Ganze zu geben gedachte. v. – r.
Es ist eine erfreuliche
Erfahrung, daß man dieses Stück, trotz der unfreundlichen Aufnahme, die es bei
seinem ersten Erscheinen auf dieser Bühne fand, wieder zu geben wagte, und daß
es mit einigem Beifall aufgenommen wurde. Daß der Dichter manchen großen Anlaß
zu gerechter Feindseligkeit gegeben hat, möchte ich wenigstens nicht läugnen;
aber deswegen sein Genie verkennen, und sich den Genuß seiner trefflichen
Arbeit versagen wollen, wäre sehr thöricht.
Eine Menge Urtheile werden
jetzt von allen Seiten über dieses Stück gefällt. Sie sind so mannigfaltig, als
sie über die Produkte des Genies immer auszufallen pflegen. Ohne weitläuftige
Erörterung und ohne die geringste Parteilichkeit glaub ich folgendes darüber
sagen zu können.
Seine Handlung ist sehr
fehlerhaft: sie zerfällt in drei besondre Handlungen, die wenig Zusammenhang
mit einander haben, und mancher Theil derselben,
z. B. die Fabrikation des
Sonnets, die Putzscene, das Anrufen der Vorbeigehenden um Hülfe u.s.w. ist ein
wenig zu leicht, um kein passenderes aber beleidigendes Wort zu brauchen.
Die Charaktere sind fast
durchgängig zu sehr aus dem wirklichen Leben gehoben, das heißt, so
inconsequent und unbestimmt, als gewöhnliche Menschen hier erscheinen: beinahe
kein einziger hat das entschiedne Gepräge des Edeln oder Unedeln, das er von
dem Dichter hätte erhalten müssen, um für ein Kunstwerk hoher tragischer
Gattung zu taugen.
Dagegen sind die Gefühle mit
so ergreifender, kräftiger Wahrheit ausgedruckt, giebt der Dialog eine fast
ununterbrochne Reihe so glänzender dichterischer Gedanken, ist die Sprache überall
so edel und erhaben-schön, daß man gar nicht Zeit und Stimmung behält, auf jene
Fehler zu merken; daß man fast in jeder Scene selbst das vergißt, was in der
vorhergehenden geschah, um sich der gegenwärtigen ganz hinzugeben: kurz, legt
man den Maaßstab der Regel an, so erscheint das Stück als ein ungeheurer Verstoß,
aber es eignet sich ganz dazu, den Glauben an die Regel, so lang’ es währt,
wankend zu machen, sie vergessen zu lassen.
Es ist schon bei der ersten
Vorstellung bemerkt worden, daß Mdme Fleck als Eugenia, alles aufbietet, in
diesen halb heroischen, halb zu mädchenhaften Charakter Einheit zu bringen, und
es gelingt ihr vortrefflich. Ihr Ton, ihr Gang, ihr Mienenspiel ist sehr edel
und kraftvoll; gleichwohl weiß sie zugleich noch weiblich reizend zu bleiben.
Sie verdiente die wärmste Bewunderung.
Weniger Beifall gebührte Mdme
Schick als ihrer Hofmeisterin. Sie sprach richtig und ihre Action war lebhaft:
aber die Bildnerin der hohen Eugenia sah man nicht in ihr. Ihr fehlte
ausdrucksvolle Würde und Kraft: denn ob diese Frau gleich nicht
Entschlossenheit genug besitzt, die Bande der Cabale und ihrer Leidenschaft zu
zerreißen, hat sie doch Gehalt genug im Charakter, um mit einiger Würde ihre
Fessel zu tragen.
Iffland macht den Herzog,
diesen denkenden, tief und leidenschaftlich fühlenden – Schwächling. Möchte es
dem großen Künstler doch gefallen, selbst sein Urtheil über diesen Charakter
irgendwo aufzustellen: es würde sehr lehrreich ausfallen. Mir schien sein Spiel
in der ersten Scene, mit dem Könige, in Rücksicht des feinen Anstandes, – die
mit dem Weltgeistlichen, in Rücksicht des Ausdruckes der Gefühle, eine
vollendete Kunstarbeit: – aber etwas Großes zu leisten, hat der dichtende Künstler
dem Darstellenden hier nicht aufgelegt.
Hr. Bethmann gab den
Gerichtsrath sehr viel besser, als vormals, wirklich fast so trefflich, als die
Rolle überhaupt gespielt werden kann. Sein Benehmen war fein und edel; sein
Vortrag voll wahren Gefühls und vorzüglich frey von dem Manierirten, das man
bei den ehemaligen Vorstellungen bemerkte. Er leistet jetzt in dieser Rolle
etwas, worin es vielen Andern schwer werden müßte, ihn zu erreichen.
Hr. Bessel der jüngere gab
als Weltgeistlicher den größten Beweis sehr vorzüglicher Talente, den wir noch
von ihm gesehen haben. Er sprach sehr gut. Wie war es doch möglich, den jungen
Künstler so lange zu übersehen. Es ist noch kein Jahr, da er bedeutende Rollen
erhalten hat, und jede spielt er beifallswerth. – Eine Bemerkung indeß: war sein
Aeußeres nicht zu jung, für den Mann, der so mannigfaltige Schicksale erlebt
hat, und so große Kenntniß des menschlichen Herzens zeigt?
Von den übrigen Rollen bei einer hoffentlich nahen
Wiederholung.
Nationaltheater: natürliche Tochter, Die (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/298.
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