Als dieses Drama (am 13ten Sepemtber 1806) zuerst in Paris erschien, stimmten alle Urtheile dahin überein, daß es neben großen Schönheiten wesentliche Fehler bei sich führe. Die Schönheiten liegen im Styl, in einzelnen Scenen, in der edeln Einfalt, dem sanften Gefühl, den das Ganze athmet, und in der glücklichen Einflechtung der biblischen Geschichte in das Sujet. Selten oder nie verfehlen Bühnenwendungen (Coups de théâtre), wie Josephs Bekanntwerdung, ihren Zweck. Ueberrascht ist der Zuschauer eben so wenig als der Handelnde; aber erschüttert sind beide; warum? sie versetzen sich in die Handlung selbst; sie denken sich Jakob und Joseph; sie fühlen an ihrer Statt. Doch die liebliche Täuschung währt nur einen Augenblick; und ist das Stück an sich mittelmäßig oder schlecht, so wird es vor und nach dem Hauptmoment noch mittelmäßiger und schlechter. Omasis gehört, als Stück beurtheilt, unter die sehr mittelmäßigen. Josephs Liebe ist eben so kalt und unwesentlich, als Rhamnes Verschwörung gegen ihn. Die schöne Almais (die französische Parodie nennt sie gar recht Dlle. Inutilis) kommt und geht, ohne Nutz und Frommen, und erscheint in den 2 oder 3 letzten Akten gar nicht wieder. Drei Vertraute begleiten ihre Herren, und – erfahren nichts, als was sie schon längst wußten. Rhamnes überläßt den Hauptstreich der Verschwörung einem Unbekannten, einem Sklaven (dem Simeon), verspricht ihm seine Schwester, die der Stolze dem vornehmen Omasis versagt; u. Simeon glaubt es ihm aufs Wort, u. macht sich verbindlich, Omasis zu morden. Jacobs Rolle ist im 4ten Akte und im größten Theil des 5ten, eine unaufhörliche Klage; die Handlung rückt um kein Haarbreit weiter fort. Joseph ist weich; als Liebhaber, Bruder, Sohn, alles nur halb, nichts mit eigentlicher Kraft und Würde. Er hat mit jedem der Mithandelnden nur einen Auftritt, welches dem Gange des Stücks die größte Monotonie giebt, frägt erst nach 6 Monaten den Benjamin nach Vater und Familie, will den Simeon durch Gemeinplätze bekehren u.s.w. Es giebt nur zwei schöne, wirklich schöne Rollen im Stücke: Benjamin und Simeon. Simeon wurde von Herrn Beschort unvergleichlich, mit der anschaulichsten Wahrheit u. Kraft gegeben. (Herr Beschort wurde am Ende herausgerufen.) Simeon, und im Kontrast mit ihm, Benjamin, geben dem Drama Leben und Interesse. Das eigentliche Ressort, die Wiedererkennung Jacobs und Josephs, ist viel zu lange gespannt; man ermüdet über der Erwartung, und sieht nicht ein, warum die vereitelte Verschwörung sie gerade eher herbeiführt, als jeder andere Augenblick. Das: Ich bin dein Sohn! kommt zu spät; der Schlag hat seine größte Wirkung verfehlt, wie ein zu spät anbrennendes Rad im Feuerwerke. – Gleichwohl hat das Stück viel Anziehendes. Es ist mit Empfindung, mit Achtung für die dramatischen Regeln, mit Bescheidenheit geschrieben; prunklos und natürlich; dabei schön übersetzt, in gereimten, aber dabei ungezwungenen, fließenden Alexandrinen. Man hört es wie ein Original. Ausnehmend schön macht sich, am Ende des dritten Akts mitten unter Simeons Seelenkampfe, die gedämpfte Musik, die Jacobs Ankunft ankündigt. Es ist der vorzüglichste Moment des Stücks. – Noch zwei Anmerkungen: 1) Simeon darf nicht, im 5ten Akte, gefesselt erscheinen; dies verstößt ganz gegen Josephs feinsinnige Achtung für seinen Vater. 2) Jacob muß zu Anfang eben dieses Aktes nicht sitzen und ruhen, sondern von ängstlicher Ungeduld getrieben, mit seinen Söhnen auf der Bühne umherirren und nach Simeon forschen.
Omasis ist weit eher ein rührendes Drama, als ein Trauerspiel zu nennen, denn Rhamnes Tod ist unbedeutend u. das Stück schließt mit einem Wiedererkennen, mit einer Vermählung. Gleichwohl hat es einen Anstrich von Schwermuth, der von dem Stück auf die handelnden Personen, und von diesen auf den Zuschauer übergeht. Selbst der Moment des Wiedererkennens ist kein Moment der Freude. Jacob ist vom Schmerz abgestumpft: Joseph steht als unfreiwilliger Kläger; Simeon als Hauptschuldiger; seine Brüder als Mitschuldige da; Benjamin allein kann und darf sich freuen. Daher, und hauptsächlich weil sie zu lang gesponnen ist, viel zu lange erwartet wird, macht diese Scene nicht die Art von Wirkung, die sie hervorbringen sollte. Sie erschüttert, sie zerreißt mehr das Herz, sie ist mehr schmerzhaft als wohlthätig, süß und wonnig. Wenn Joseph bei Mose sagt: Ich bin Joseph euer Bruder, so ist es tausendmal mehr werth, als wenn er hier zu Jacob spricht: Ich bin dein Sohn Joseph. Kann sich Jacob einen glücklichen Vater nennen; können die Fesseln, die dem Simeon abgenommen werden, können ein Paar Umarmungen das Geschehene ungeschehen machen? Daß Benjamin ihm Verzeihung verkündet, ist zwar der Beweis eines großen Zartgefühls von Seiten des Verfassers, aber auch zugleich das stumme Bekenntniß seines fehlerhaften Plans, weil er zu solchen Palliativen seine Zuflucht nehmen mußte. Die zweite Vorstellung des Stücks war noch geründeter als die erste. Benjamin war zarter, liebenswürdiger; Simeon versteckter, zurückstoßender, und bei seiner unbegreiflichen Liebe menschenfeindlicher; Joseph, frommer, einnehmender; Joseph, mehr als je, in dem für todt gehaltenen Sohn lebend. In der Uebersetzung sind einige Härten, einige Fehler aufgestoßen: z. B. das uns Egypten giebt (gyb gieb). Die weit entlegnen Zonen, wenn von benachbarten Ländern die Rede ist. Auffallend schöne Verse, wie folgende: Wo ist das Vaterland, wenn’s nicht die Heimath ist? – Nun wirst du nicht mehr weinen. – Beim Glanz der Tugend frägt man nicht nach Ahnenglanz u.s.w. Jacob neben Benjamin, steht viel zu alt da. Der Kontrast ist, zum mindesten, nicht angenehm. Sollte es kein schicklicheres Mittel geben, Jacob zu einem Sessel zu verhelfen, als ihm denselben in dem Aufzuge von seinen Söhnen nachtragen zu lassen?
Nationaltheater: Omasis, oder: Joseph in Ägypten (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/328.
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