Schon seit längerer Zeit arbeiten
die Operetten dahin, der Musik ein entscheidendes Uebergewicht über die
scenische Darstellung auf der Bühne zu geben. Das Schauspielhaus wird dadurch
zu einem Concertsaal heruntergesetzt, und das Verhältniß der Künste, die eine
vollkommene Nachahmung des Lebens bilden sollen, gänzlich aufgehoben.
Und gleichwohl ist es nicht
allein der Charakter des scenischen Spiels, welcher die Musik zu einer
dienenden Kunst im musikalischen Drama macht, sondern die Natur der Musik
selbst. Sie ist als Führerin des Affekts, als Mahlerin der Leidenschaften ihrer
zarten Nuancirungen und Uebergänge sehr dazu geeignet, das Gemüth für die
Erwägung einer großen Handlung empfänglich zu machen, und die Eindrücke zu
verstärken, die in den bestimmtesten Zeichen Poesie und Mimik geben, aber sie
ist nicht im Stande ihre eigene Schöpfung gegen vereinte Kraft dieser Künste,
die auf den reizbarsten und mächtigsten aller Sinne geradezu wirken, mitten in
den Umgebungen scenischer Zauberey, geltend zu machen. Daher ist auch jetzt
schon die beliebte Oper kein musikalisches Schauspiel mehr, sie ist ein Gemisch
von Pomp, Zauberspektakel und Possen geworden. So scheint die Musik selbst ihre
Ohnmacht einzugestehn, oder sie huldigt dem frivolen Zeitgeschmacke, – welches
ziemlich auf eins hinausläuft.
Sulmalla wird als
musikalisches Stück überall gefallen, wo geistreiche und glänzende
Compositionen ihre Bewunderer finden. Aber der gänzliche Mangel aller Handlung
wird ihr mehr den Concertsaal als Cantate, denn das Theater als einem
Schauspiel anweisen. Madam Schick hat uns als Sulmalla eines der schönsten
Conzerte gesungen, die man nur von ihr hören kann.
Es sey erlaubt, noch ein Wort über einen Theil der
Dekoration beyzufügen. Die Wolkenerscheinung des Geliebten zeigt sich als
mattcolorirtes Gemälde in einem Wolkenrahmen. Uns hat es immer geschienen, als
hätte Ossian sich alle diese Gesichte als Wolkengebilde gedacht, die nicht in,
sondern aus Wolken geformt gewesen. Von einer solchen scenischen Ausschmückung würde
sich ein weit größerer Effekt erwarten lassen.
Sulmalle, ein lyrisches Duodrama mit Chören von Hrn. Herklots, in Musik gesetzt von Hrn. Weber. – Man hat Duodramen auf der Bühne, wo zwei Personen, eine nach der andern, in kurzen Sätzen sprechen, und die Musik auch in kurzen Sätzen zwischen einfällt. Es sind lyrische Monologen, nicht lyrisch vorgetragen, die eine halbe Stunde dauern, in welcher sich der Künstler abarbeitet, und, weil der Zuschauer nicht so schnell in die Empfindung hereinkommen kann, und er die Disharmonie zwischen der Empfindung und dem wörtlichen Ausdrucke derselben bald merkt, keine Wirkung hervorbringen. Diese kleinen Tablaux müssen durchaus verständlich und poetisch seyn; nicht bloße Monologen (die weder Schauspieler, noch Zuschauer lange aushalten), sondern mit Dialog vermischt; der Vortrag muß ganz lyrisch seyn, also in Versen und – Gesang; es muß eine vollständige Handlung dargestellt seyn, dessen Süjet aus einer poetischen Welt, aus einer fernen Zeit genommen ist, und sich mit Empfindungen beschäftigt, die in jeder Brust leicht an- und nachklingen. Alle diese Eigenschaften finden wir in dem vorliegenden Duodrama. Der Stoff ist aus Ossians Temora. Kathmor kämpft gegen Fingal. Sulmalle, seine Geliebte, ist in der männlichen Kleidung eines Bogenschützen unter seinen Kriegern; er entdeckt sie, und zeigt ihr die Höhle des Druiden Klonmal auf dem Gebiorge Lona, als den Ort an, wo sie ihn nach der Schlacht des dritten Tages als Sieger erwarten soll. Die Schlacht wüthet in der Ferne; die Handlung beginnt vor der Höhle des Druiden. Der blinde Greis singt in seine Harfe, Sulmalle erscheint auf den Bergen. „Dies ist der Ort!“ sagt sie, und nähert sich allmählig dem Seher. „Hier soll ich bis zur Nacht, Des Königs harren, bis sein Heldenschwerdt Den blut’gen, zweifelhaften Sieg entschieden.“ Sie vereinigen sich, das Lob des Helden zu singen. Klonmal erkennt in ihrem Gesange Sulmallen, und fordert sie auf, ihm ihre Geschichte ihrer Liebe zu erzählen; sie thut es, und der Druide mischt seine traurigen Prophetien ein, welche mit den süßen Erinnerungen des Heldenmädchens einen höchst rührenden Kontrast machen. – Sie hat ihre Geschichte damit geendigt, daß sie erzählt: „Hier werde Kathmor ihr seinen Sieg verkünden, oder sein Geist, daß er gefallen sey;“ sie ist in die Worte des Entzückens ausgebrochen: Ich bin geliebt! Ich bin die Seine! und nun ergreift sie gleichsam das gewaltige Schicksal. Sie fühlt seine Nähe, sie eilt ihm auf die Berge entgegen, sein Schatten erscheint in den Wolken. Von Donnerschlägen Erbebt der Wald! Er zeigt sich wieder! Ach! – ohne Leben! Es ist sein Schatten! Ich seh ihn schweben Zum Geisterchor. Ein Chor von Barden, der den gefallenen Helden singt, zieht von dem Gebirge herab. Sulmalle glaubt die Chöre der Geister zu hören: Fern über’s Nebelland Bist du entschwunden! Doch ew’ger Liebe Band Hält uns umwunden! Reich’ mir die Geisterhand, Geliebter Freund! etc. Sie ergreift im Wahnsinne den Dolch, und fällt. Klonmal und die Barden klagen über der Gefallenen. Vielleicht wäre das Interesse noch erhöht worden, wenn der Dichter Kathmorn selbst aufgeführt, wenn er uns in die Nähe der Schlacht geführt hätte; wenn der Held etwa auf einem raschen Zuge in der Mitte des Kampfs mit Sulmallen und seinen Kriegern bei Klonmals Höhle vorüber geeilt würe, und sie gezwungen hätte, statt ferner an seiner Seite zu kämpfen, dort seiner oder seines Schattens zu harren – dann würden wir gesehen haben, was wir jetzt nur erzählen hören; dann würden wir für Sulmalle selbst ein höheres Interesse gefaßt haben. Doch wenden wir uns zur Musik. Sie ist eine neue, in ihrer Art einzige Erscheinung. Der Komponist hat den Dichter seines Textes überflogen; die Quelle seiner erhabenen und schönen Laute ist Ossian selbst. Wer in seinen Geist eingeweiht ist, und selbst den Titel des aufzuführenden Stückes nicht wüßte, den würde die Symphonie schon unwillkürlich in die Ossiansche Welt, in der eine erhabene Trauer herrscht, versetzen. Mit vester, sicherer Hand ist dieser Charakter durch das ganze Stück gehalten; keine modernen Schnörkel und Künsteleien stören den Totaleindruck; nur zuweilen sind einige liebliche Farben über den dunkeln Grund hingehaucht. Die Musik ist so ganz charakteristisch, daß sie nur dem reinen und wahren Geschmacke – aber auch diesem in seltenem Grade – gefallen kann. Sie begleitet nicht die Gedanken und Gefühle; sie ist Gedanke und Gefühl selbst. – Auszeichnen können wir darin nichts; aber doch ist der von der Harfe begleitete Gesang des Druiden, die Erscheinung Sulmallens, der Lobgesang des Helden, die rührende Stelle in ihrer Erzählung: Theure Mutter! oft im Schlummer Zeigt ein Traum mir deinen Kummer! vor allem aber die entzückenden Töne der Worte: Ich bin geliebt, so wie endlich die Chöre der Barden, als einzelne Meisterstücke in einem großen kunstvollen Ganzen zu betrachten. – Mad. Schick, welche die Rolle der Sulmalle spielt, beweist auch hier, daß sie wahre Künstlerin von Geist, nicht bloß von Kehle, ist; sie hat vielleicht den Beifall der Menge aufgeopfert, da sie ohne Ueberladung und Colloraturen, mit Würde, Kraft und Geschmack, und mit reiner, kräftiger Stimme, den todten Buchstaben der Musik zum Leben erweckt; aber sie hat den ungetheilten Beifall der Kenner gewonnen. Auch als Schauspielerin hat sie die schwere Aufgabe, besonders in ihrer letzten Scene, befriedigend gelöst. – Um zu wissen, wie die Parthie des Druiden besetzt sey, darf man nur hören, daß sie Herr Gern singt. Sein runder, weicher, und überaus lieblicher Ton, trifft rein und zart den Sinn des Komponisten und des Dichters, so wie er der treue Dolmetscher der erhabenen, verschlossenen Wehmuth eines alten blinden Barden ist. Die Poesie erhält jung; daher kann er diesen Alten immer mit männlichem Feuer spielen. – Nicht einen Augenblick verräth er, daß er nicht blind ist, und – es ist vielleicht eine Kleinigkeit, die wir bemerken, aber eine sehr lobenswerthe – sein stilles Accompagnement auf der Harfe ist so genau und pünktlich, daß man ihn selbst statt des Orchesters, zu hören glaubt, und man die Täuschung in keinem Augenblicke verliert. Zu dem allen kommt noch die schöne Präcision, mit der das Orchester, unter der Direktion des Komponisten, die tragische Musik vorträgt, so wie die sehr zweckmäßige und täuschende Dekoration – so, daß alles vereinigt ein harmonisches Ganze bildet, und einen seltenen Kunstgenuß gewährt.
Nationaltheater: Sulmalle (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/36.
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