Am 21sten April wurde gegeben Minna von Barnhelm. Es gereicht den verschiedenen Direktoren des Nationaltheaters, die seit einigen Jahren demselben vorgestanden haben, zum großen Lobe, daß sie dies vortrefliche Stück des unsterblichen Lessing nie bei Seite legten, sondern es von Zeit zu Zeit, wenn gleich für unsern Geschmack noch lange nicht oft genug, auf die Bühne brachten. Und es freut uns, daß noch ein ansehnlicher Theil des Publikums von echter, prunkloser Schönheit, von Karakteren, die sich so sanft und so natürlich an einander entwickeln, und von ruhig fortschreitender Handlung ohne Theatercoups und ohne gewaltsame Situationen, mit einem Worte, von Minna von Barnhelm angezogen wird. Wir würden einen Hochverrath gegen unsre Leser zu begehen glauben, wenn wir sie noch mit dem Inhalte dieses Lessingschen, fast noch immer so einzig dastehenden Lustspiels und dessen vorzüglichsten Schönheiten bekannt machen wollten. Unsre Empfindung bei Lesung oder bei Ansicht desselben ist immer die alte und doch immer neu; immer wiederhohlen wir uns, nur fast noch inniger, was wir sonst und vor vielen Jahren davon sagten. „Es ergötzt und rührt, es erheitert und entlockt Thränen, es zieht unser ganzes Interesse an sich und alles so natürlich, so ohne Zwang, daß wir, ohne es selbst gewahr zu werden, uns nach und nach in dem namenlosen Zauber verstrickt fühlen, der um das ganze Gemählde schwebt. Wir machen Freundschaft mit dem treflichen Telheim, mit der feurig liebenden Minna, mit dem ehrlichen Werner und mit der guten, muthwilligen Franziska, wir befinden uns in ihrer Gesellschaft so wohl und wir scheiden zulezt von ihnen, wie man von alten Bekannten scheidet, befriedigt durch ihren Umgang, aber voll Sehnsucht, sie bald wieder zu sehen.“ Ohne Tugend-Muster aufzustellen, die außer der Sphäre des Menschen liegen und nirgends zu Hause sind, als in den überwarmen Köpfen junger Dichter oder auf den Studierstuben kaltblüthiger Schulgelehrten führt uns der Verfasser beinahe an die Gränze der Vollkommenheit, welche der menschlichen Tugend zu erreichen möglich ist. Die Tugend seiner Helden und Heldinnen ist keine abstrakte Tugend, die blos aus der Vernunft entspringt und aus eben dieser Quelle ihre Nahrung zieht, - nein, sie kömmt unmittelbar aus dem Herzen und hängt immer mit gewissen kleinen Schwächen und Leidenschaften zusammen, durch welche sie unterstützt und gehalten wird. Bei Telheim ist diese Schwäche das Point d'honneur, bei Minna verliebter Eigensinn und beim alten Werner Liebe zum Soldatenstande und eine geheime Abneigung gegen die sogenannte ordentliche haushälterische Lebensart. Und wie verschieden äußert sich nicht der Karakter männlicher und weiblicher Güte in den Karakteren der beiden Hauptpersonen. Bei Telheim ist sie mit einem starken Anstrich von Trotz gemischt, wie es immer bei einem Mann von Kraft und Bedeutung zu geschehen pflegt, den das Unglück verfolgt, dessen Karakter aber schon gebildet und folglich zu spröde ist, um in eine neue, durch sein ungünstiges Verhältniß bestimmte Form zusammen zu kriechen. In Telheims Lage hätte der Schwachkopf all sein bischen Stolz verlohren; Telheims Stolz wächst mit seinem Unglück; jener hätte geächzt und geklagt, dieser schweigt oder murrt, jener hätte sich unter Menschen geschmiegt und ihnen geschmeichelt, dieser fängt an sie zu hassen und würde sie vielleicht schon hassen, wenn nicht das Bewußtsein einen Werner um sich, und die Erinnerung einst eine Minna gefunden zu haben, ihn vor dieser Verirrung bewahrt hätte. Auch ist Minna ganz dazu gemacht jeden zu bekehren, der an weiblicher Vortreflichkeit zweifelt. Indeß können wir die Empfindung nicht unterdrücken, daß die Spielerei mit dem Ringe fast zu weit getrieben scheint und daß der verstellte Ernst, den Minna annimmt, da sie den Telheim ihren eigenen Ring giebt und ihm glaubend macht, daß es der seinige sei, zu lange auf Kosten des raschen Gangs der Handlung und, wir möchten hinzusetzen, der Wahrscheinlichkeit anhält. Zwar wird dadurch die neckische Laune und der verliebte Eigensinn, womit Lessing seine Minna ausstatten wollte, treffend karakterisirt, aber uns dünkt ein wenig zu sehr auf Kosten ihrer übrigen Eigenschaften, ihrer hohen Achtung für Telheim und ihrer glühenden Liebe zu ihm. Die Darstellung dieses Stücks auf unsrer Bühne hat uns schon oft ein Geist und Herz erhebendes Vergnügen gemacht und wir gestehen gern, daß wir, ganz hingenommen von so vielen Schönheiten, selten Aug' und Ohr für einzelne Mängel hatten. Und wer möchte wohl seine Empfindungen durch Krittelei unterbrechen oder gar zerstören? Auch die diesmalige Darstellung rief, obgleich eine und die andere Rolle nicht so gut wie ehemals besezt war, die schon oft in uns aufgeregten schönen Gefühle zurück. Wir sollten nichts von der gelungensten Darstellung der Minna durch Madame Unzelmann sagen, denn wir werden ihrer nichts würdiges sagen können. Eine einzige Darstellung dieser Art entschädigt für all das gewöhnliche und mittelmäßige, was man leider! noch oft genug auf der Bühne ansehen und ertragen muß. Hier vergißt man, daß das Schauspiel, Schauspiel ist, hier glauben wir mit dem gebildetesten, feinsten, besten weiblichen Geschöpf in einer Gesellschaft zu sein, ergötzen uns an ihrer Laune, an ihrem Witz, an ihren kleinen Neckereien, werden angezogen von ihrer himmlischen Güte, und interessiren uns für ihre Leidenschaft, die sie, zu natürlich, zu offen um sie einen Augenblick verbergen zu können, mit so viel Sittlichkeit, Wärme und Karakter für einen schon erwählten Glücklichen äußert, daß wir, bei dem erhöhtesten, lebhaftesten Interesse für sie, doch keine andern Ansprüche als die der Freundschaft an sie zu wagen das Herz haben. Eine Schauspielerin, welche die Minna nur gut spielt, darf sicher schon auf einen Rang unter den guten Schauspielerinnen Anspruch machen, und welchen darf sie forden, die sie so vortreflich, so nahe dem Ideal darstellt! Diese Rolle ist ein wahrer Probierstein, woran man den bloßen Handwerker von dem echten, sinnvollen Künstler, den falschen von dem wahren Geschmak, Natürlichkeit von zunftmäßiger Rutine, den feinen Ton der Welt von Theatermanieren, eine Unzelmann von gewöhnlichen Aktrizen unterscheiden kann. Ohne übrigens den weitumfassenden Talenten der Madame Unzelmann irgend etwas abzusprechen, glauben wir behaupten zu dürfen, daß Rollen dieser Art diejenigen sind, womit ihre Individualität am meisten übereinstimmt und wofür sie selbst, wenn wir uns nicht ganz irren, entschiedene Prädilektion hat. Und vorzüglich ist es Minna, die sie immer ganz con amore zu spielen scheint. Wohl der Künstlerinn, die, indem sie so der schönsten Schöpfung des großen Abgeschiedenen huldigt, ihren guten Geschmak selbst so untrüglich pronunzirt! Es wäre, wir gestehen es aufrichtig, eine zu schwere Aufgabe für uns, wenn man eine genaue Entwickelung der Darstellung der Madame Unzelmann und eine Auflösung des Ganzen in seinen einzelnen Schönheiten fordern wollte. Jedermann, der sich nur einigermaßen mit Gegenständen dieser Art beschäftigt hat, wird empfunden haben, wie schwer es ist, bei einem transitorischen Kunstwerke nie den Blick über das Ganze zu verlieren und zugleich die Aufmerksamkeit auf alles Einzelne zu heften. Und vor allen andern schwer, fast unmöglich ist dies bei einer gelungenen Darstellung der Minna, wo der wesentlichste Reiz in der Mannigfaltigkeit seiner Wendungen, dem Reichthum und dem schnellen Wechsel so vieler kleinen Nüanzen besteht und die doch alle eine gewisse Einheit, wodurch Minna karakterisirt wird, haben müssen. Eben diese Einheit, besonders die Einheit des Accents in der Deklamation ist es, die wir nie in der Darstellung der Madame Unzelmann vermißten; bei dem größten Reichthum an Ideen, Wendungen und Nüanzen war diese Einheit gleichsam der Kreis, den sie nie überschritten; in keinem Augenblick hörte Madame Unzelmann auf Minna, nur Minna zu sein.
Diese Einheit, von der wir im vorigen Blatt redeten, giebt der Darstellung der Madame Unzelmann eine solche karakteristische Wahrheit, die wenn wir ein durchaus gebildetes Publikum hätten, in ihren kleinsten Zügen jene echten Huldigungen des Beifalls erhalten müßte, die nur der Wiederhall des augenblicklichen Eindrucks sind. Aber an nichts darbt die Masse des Publikums so sehr, als an richtiger Kenntniß der Wahrheit einer Darstellung, sie will fast nur immer ergriffen, gepakt, konvulsivisch erschüttert seyn, gleichviel, ob Minna oder Medea, Telheim oder Carl Moor an der Tagesordnung steht. Diese den Schauspielern nur zu bekannte Stimmung des großen Haufens verleitet oft so manchen, die Wahrheit aufzuopfern, um das laute Geräusch des Beifalls hinter sich her ertönen zu hören. Madame Unzelmann ist von dieser Sünde ganz frei, und obgleich es manche Leute giebt, die ihre Minna mehr loben, und Bravo über Bravo ausrufen würden, wenn es ihr belieben wollte, eine Elfride daraus zu machen, so trägt sie doch, diesen zu gefallen, die Farben nicht stärker auf, sobald die Harmonie des Ganzen darunter leiden, hebt keinen einzigen Zug stärker heraus, sobald die schöne Einheit dadurch zerstört würde; und dies beweiset mehr als alles ihren Künstlerwerth. „Die Einheit des Accents zu empfinden, sagt Diderot, ist des Schauspielers Werk. Das ist die Arbeit seines ganzen Lebens. Fehlt ihm dies Gefühl, so wird sein Spiel bald schwach, bald übertrieben, selten richtig, Stellenweise gut, und im Ganzen zusammen schlecht seyn. Wenn sich die Sucht, beklatscht zu werden, eines Schauspielers bemeistert, so übertreibt er. Das Fehlerhafte seiner Aktion steckt die Aktion der andern an. Es ist keine Einheit mehr in der Deklamation seiner Rolle. Es ist keine mehr in der Deklamation des Stücks. Und bald erblicke ich auf der Scene weiter nichts als eine lärmende Versammlung, in der jeder den Ton hält, der ihm beliebt; ich fange an, Langeweile zu haben; meine Hände fassen von selbst nach den Ohren, und ich mache mich davon.“ Aber diese der Wahrheit so schädliche Sucht der Schauspieler nach lauten Beifall ist leider so alt, und wird von so manchen kleinlichen Leidenschaften täglich so genährt, daß auch oft der bessere Schauspieler wider seinen Willen in dem allgemeinen Strom mit fortgerissen wird. Demohngeachtet muß man nicht aufhören, das Tadelnswürdige zu tadeln, so lange noch nicht der letzte Schimmer von Hoffnung zur Besserung verschwunden ist. Unsere heutigen Schauspieler, die so sehr darauf pochen, besser als ihre Vorgänger zu seyn, und so manche Fehler, die jenen anklebten, abgelegt zu haben, sollten endlich auch diesen, der in seinen Folgen schlimmer als alle übrigen ist, abzulegen, und, statt sich zu dem Geschmack des großen Haufens herabzulassen, ihn zu sich hinauf zu erheben suchen. Auch Lessing klagte schon, wie Diderot, über diese übel angebrachte Sucht nach lautem Beifall. Wir führen das, was er sagt, um so lieber an, da es noch so ganz auf unsre Zeit paßt, und da die Stimme des Corypheen der dramatischen Kunst den Schauspielern allerdings allgemein gültiger als die unsrige seyn muß. „Es könnte leicht seyn, sagt er, daß sich unsre Schauspieler bei der Mäßigung, zu der sie die Kunst, selbst in den heftigsten Leidenschaften, verbindet, in Ansehung des Beifalls nicht allzuwohl befinden dürften. Aber welches Beifalls? — Die Gallerie ist freilich ein großer Liebhaber des Lärmenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Händen zu erwidern. Auch das deutsche Parterr ist noch so ziemlich von diesem Geschmack, und es giebt Akteurs, die schlau genug von diesem Geschmack Vortheil zu ziehen wissen. Der Schläfrigste rafft sich gegen das Ende der Scene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebt auf einmal die Stimmen, und überladet die Aktion, ohne zu überlegen, ob der Sinn seiner Rede diese höhere Anstrengung auch erfordere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was thut das ihm? Genug, daß er das Parterr dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu seyn, und, wenn es die Güte haben will, ihm nachzuklatschen. Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es theils nicht Kenner genug, theils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, für die That.“ — — Man verzeihe uns diese Abschweifung, die vielleicht vergebens, aber überall am rechten Orte steht. — Die Rollen des Telheim und des Werner wurden heute, erstere besser, und letztere minder gut als sonst, dargestellt, aber demohngeachtet war der heutige Werner des Herrn Unzelmann noch immer ein sehr guter Werner, und der Telheim des Herrn Fleck noch bei weitem nicht Lessings Telheim. Wahrscheinlich war Krankheit die Ursache, daß Herr Unzelmann heute seinen Werner nicht so vortreflich, wie wir diese und ähnliche Rollen von ihm zu sehen gewohnt sind, darstellte, weil er bald darauf in eine Krankheit verfiel, die ihn mehrere Wochen von der Bühne entfernte. Es würde daher ungerecht seyn, eine gewisse Mattigkeit und einige Nachlässigkeiten zu rügen, wovon seine Darstellung dieser Rolle, die er, unsers Erachtens, auf jeder Bühne mit dem allgemeinsten Beifall spielen muß, sonst frei war. Herr Fleck sagte heute mehrere Stellen mit dem wärmsten, herzlichsten Gefühl, manirirte weit weniger als in seinen frühern Darstellungen dieser Rolle, und deklamirte überhaupt mit der ihm eignen Leichtigkeit und mit alle dem Zauber, dessen sein schönes Sprachorgan fähig ist; abgerechnet, daß er oft zu leise sprach, und nicht blos manche Worte am Ende einer Rede, sondern ganze Sätze fast unhörbar fallen ließ, Sätze, die eher herausgehoben oder wenigstens vollkommen verständlich gesagt werden mußten, da sie oft wesentlich zur Karakteristik der Rolle gehörten, worüber der Zuhörer aufgeklärt werden soll, oder doch Schönheiten enthielten, deren Entziehung ein Verlust ist. Aber im Ganzen denken wir uns den Telheim anders, als er ihn gab. Der Mann, der mit seinem Schicksal kämpft, und größer ist als sein Schicksal, muß, die Stelle, worauf er steht, die Verhältnisse, die ihn umgeben, mögen seyn wie sie wollen, wichtig oder unwichtig, dieser Mann muß in der Darstellung auf der Bühne immer eine hohe Bedeutsamkeit, gleich frei von Ostentation und pretiösen Stolz als vom plumpen Trotz eines vierschrötigen ehrlichen Haudegems an sich haben. Und der Mann, den Minna liebt, nicht blos hochachtet, darf zwar nichts weniger als moderner Elegant seyn, aber ein freier, edler Anstand und eine gewisse Politur in seinem Äußern darf durchaus nicht bei ihm vermißt werden, oder wir begreifen alles, nur nicht Minnas Geschmack. — Ein wenig mehr schlichte Natur in der Deklamation, und Herrn Kaselitz Just ist, wie wir ihn nur wünschen können. Ehrlichkeit, gerader Sinn, gläubige Anhänglichkeit an den Tugenden und Weisen der sogenannten unverdorbenen aber ungebildeten Menschenklasse, dürften wohl schwerlich von irgend jemand so wahr und treu dargestellt werden, als von diesem so äußerst brauchbaren Schauspieler. Der Wirth ist eine der besten Rollen des Herrn Reinwald, ein lebendiges Bild jener immer geschäftigen komplimentenreichen Geschöpfe, die aber schon eine gewisse Habituität besitzen, ihre Gäste nach dem Maaß ihres Reichthums und ihrer scheinbaren Wichtigkeit zu behandeln, ohne alle Übertreibung und doch von treffender Komik. Madame Schwadke, welche die Franziska spielt, soll eine Frau seyn, der es an Kopf und Einsicht gar nicht fehlt. Von Kindheit an beim Theater fehlt es ihr auch nicht an Rutine; nur ihre Sprache legt ihr große Schwierigkeiten in den Weg; sie ist momoton und unverständlich. Mit diesen Fehlern kann ihr ihre Franziska nicht vollkommen gelingen. Herr Lippert nahm heute in der Rolle des Riccant, die er immer mit großem, verdientem Beifall gespielt hat, Abschied von unsrer Bühne; er wurde am Ende der Vorstellung hervorgerufen, hielt eine kleine Anrede, worin er dem Publikum viel schmeichelhaftes sagte, und zum Lebewohl tüchtig beklatscht wurde.
Nationaltheater: Minna von Barnhelm, oder: Das Soldatenglück (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/447.
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