Mittwoch den 5ten Februar: Torquato Tasso, von Göthe. Ein Werk, wie Tasso, und eine Vorstellung desselben, wie die auf unserer Bühne, rechtfertigen es, daß diese Blätter mit einer wiederholten Anzeige davon eine Ausnahme von ihrer Sitte machen. Es kommt hier nicht darauf an, das Publikum erst mit einer dramatischen Neuigkeit näher in Bekanntschaft zu setzen. Es ist die Absicht, dem Theil des Publikums, der für den Fortschrittt der Künste und des Geschmacks unter uns Sinn und Achtung hegt, Rechenschaft von dem Fortgange einer Kunstunternehmung zu geben, die in ihrer Art als einzig in den Jahrbüchern unserer Bühne anzusehen ist. Das Werk, von dem wir reden, liegt, und wenn man den Zeitpunkt unserer poetischen Litteratur bedenkt, in welchem es entstand, um so mehr als eine Art Wunderwerk, schon seit mehreren Dezennien vor den Augen der ganzen Nazion. Es war gerade dieser hohe Grad von einer in deutschen dramatischen Werken bis dahin ganz unbekannten Vollendung in allen Theilen, dieser, man kann sagen, südliche Geist, der aus dem ganzen Gedichte haucht, welcher eine Zeitlang unsere an einen andern Maaßstab der Beurtheilung des sogenannten Dramatischen gewöhnten Landsleute, an dem Werke und seinem Werthe, als eines ächten Schauspiels, irre werden ließ. Wie wäre es auch möglich gewesen, damals, als es entstand, durch die einzig richtige Probe, eine Vorstellung auf der Bühne selbst, darüber auch nur die Fähigeren der Nazion eines bessern zu belehren, damals, als noch, man mag auch zum Lobe einzelner sagen, was man will, ein erbärmlicher Komödiantismus, von aller wahren höhern Ansicht der Kunst entblößt und durch schlechte Vorbilder eines verdorbenen Geschmacks geleitet, im höheren Schau- und Trauerspiele die Bühne beherrschte. So hoch sich Tasso als Drama über die Sphäre seiner Zeitgenossen erhob, eben so hoch stand auch die Kunst es vorzustellen, vielleicht damals noch nicht in ihren Grundelementen erfunden, über der Manier erhaben, mit welcher man jene Zeitprodukte zur Anschauung zu bringen, sich quälte und abarbeitete. Jetzt ist es zum Theil auf mehreren Bühnen, den Musen sei Dank! etwas anders geworden. Auch unsere besten Schauspieler haben sich auf eine höhere Stufe der reinen Kunstansicht geschwungen und durch glückliche Talente unterstützt, bei sorgfältigem Studium in den wesentlichen Theilen ihrer Kunst eine Virtuosität angeeignet, die, nicht als bloße rohe Naturgabe, sondern als Resultat einer sorgfältig geübten und vollendeten Kunst, sie allein fähig machen konnte, sich einem solchen Werk, wie Tasso, mit glücklichem Erfolge zu unterziehen. Was aber auch ein solches Werk, von solchen Künstlern dargestellt, dem, der das Gedicht und die Darstellenden zu verstehen, und mit ihnen zu denken und zu empfinden weiß, für Genüsse gewähren kann, das haben eben sowohl die unbefangensten, als die von vornher besorgtesten von denen wiederholentlich mit Entzücken gestanden, die nun zum drittenmale diesem bis dahin einzigen Kunstfeste auf unserer Bühne beiwohnten. Aber freilich muß man die Weihe dazu, das heißt, das dazu nöthige Maaß von Bildung jeder Gemüthskraft, schon von Hause aus mit vor die Bühne bringen und nicht erst erwarten, daß sie von hier herab, wie durch ein magisches Kunststückchen, mitgetheilt werden soll. Für den Genuß des Höchsten kann man nicht gebildet genug seyn. – Dem aufmerksamen Beobachter der drei Vorstellungen des Tasso auf unserer Bühne, ist es gewiß nicht entgangen, um wie viel vollendeter im Ganzen und in manchem Einzelnen sich diese dritte vor den vorhergehenden auszeichnete. Eine größere, wohlthätige Freiheit und Sicherheit herrschte bei allen Darstellenden statt der ersten, an sich zwar sehr achtungswerthen, doch das Spiel in etwas hemmenden Scheu vor dem ernsten Beginnen. Ein hoher Grad von Klarheit, innerer Verbindung und Vollendung im Ganzen und in einzelnen Rollen war die natürliche Folge davon. So vollkommen wie heute ward Alphons noch nie von Herrn Beschort gegeben. Der Ausdruck seiner Empfindung, zum Beispiel, in der Scene nach dem Zwiste zwischen Tasso und Antonio, wo Tasso vom Fürsten auf sein Zimmer verwiesen wird, und jener noch zuvor, nach Rückgabe des Degens und Lorbers, seiner gereizten Empfindlichkeit freien, doch edlen und so seine Wirkung auf den Fürsten nicht verfehlenden Lauf läßt, war dem Edelmuthe eines solchen Fürsten würdig und der beste Kommentar zu den zwar wenigen, aber seelenvollen Worten, die ihn der Dichter hier sagen läßt. Eben so in der darauf folgenden Scene nach Tassos Abgang. Reiner und bezaubernder tönte der Prinzessin Stimme nie in die Seele des Hörers; nie entzückten höher und inniger selbst aller Männer Herzen die goldenen Worte von der Treue und Liebe der edlen Frauen im zweiten Akt, nie war Mlle. Maaß so ganz Eleonore von Este, im Geist des Dichters, als im dritten. Aber auch nie enthüllte mit größerer Feinheit und bewundernswürdiger Kunst Mad. Bethmann, als Gräfin, die geheimsten Falten ihres Herzens und ihrer Gesinnung gegen Tasso als in diesem Akt. Mit einer Begeisterung, die aus der vollen Quelle ihres von Apoll und den Musen so ganz erfüllten Busens, hervorströhmte, sprach sie in dem herrlichen Selbstgespräch ihre Hoffnungen von dem Besitze Tassos aus, Hoffnungen und Wünsche, die, wie selbstsüchtig sie auch in Absicht auf Tassos Verhätniß zu der ihr befreundeten Prinzessin sein mögen, doch von der hier alles veredelneden Hand des großen Dichters eine Entschuldigung dadurch erreicht haben, daß er sie vornehmlich aus der nach eigner Unsterblichkeit des Namens strebenden höhern Sehnsucht Eleonorens aufsteigen läßt. Wie herrlich paarte sich hier die Schwachheit des Weibes mit der Regung ihrer edlen Triebe! Wie floß alles zu einer Idealität zusammen, die uns sonst noch nie so klar geworden war. Ueberhaupt ist dieser Akt durch den genialen Wetteifer zwischen Mad. Bethmann, Mlle. Maaß und Herrn Lemm, als Antonio, vom ersten Worte bis zum letzten Hauche des Tons, welcher den Lippen entschwebte, von der ersten Bewegung bis zur letzten leisen Andeutung der Miene und des Körpers und durch ungestörten Einklang des Ganzen das Schönste und Vollendeteste in edler Spach- und Mimenkunst, was Referent je auf einer Bühne gehört und gesehen hat. Gern hätten wir den Darstellenden zum schönsten Lohn ihrer Kunst die Gegenwart des großen, deutschen Dichters selbst gewünscht, der all dies Zarte, Herrliche, Wahre, Edle und Schöne aus der reichen Fülle seines Geistes in den Raum dieses Aktes zu entfalten vermogte. Er würde gewiß nicht ohne Freude, Beifall und Bewunderung bei dieser Darstellung seines Werkes geblieben sein. – Die Rolle des Tasso ist unstreitig durch die Mannigfaltigkeit der Bestandtheile seines Charakters und den Wechsel der Leidenschaften, die schwierigste für die Darstellung. Ob sie je ein Schauspieler in allen Theilen erschöpfen wird, erschöpfen kann, mögte zweiffelhaft seyn. Aber um so mehr Dank gebührt Herrn Bethmann für das Studium, für die Anstrengung, die er dieser Aufgabe gewidmet hat. Sein erstes Erscheinen im ersten Akt, seine Aeußerung nach der Aufnahme seines Dichterwerks beim Fürsten, der Ausdruck seiner Gefühle nach der Krönung mit dem Lorber, das Selbstgespräch im zweiten Akt mit der Prinzessin, sowie sein Streit mit Antonio und sein Abschied von Degen und Kranz, desgleichen sein Gespräch mit dem Fürsten im fünften Akt, und die letzten Momente der Rolle schienen uns immer das Vorzüglichste in seiner Darstellung zu seyn. Vielleicht wäre eine gewisse Milderung des Tons und der Akzion in den heftigsten Stellen, besonders da, wo die gereizte Empfindlichkeit bitter wird, wohlthätig für die Vollendung eines schönen Ganzen. – Noch müssen wir zu Herrn Lemms schon oben ausgesprochenem Lobe den meisterhaften Vortrag der Stelle im ersten Akt erwähnen, die eine Schilderung der Vorzüge Ariostens enthält. Wie ohne alle Manier, ohne Zwang, ohne Härte, ohne Sprünge, aber in voller Begeisterung, wie sie Antonio fähig ist, und in dem schönsten Wohllaut der Stimme verschmilzt sich hier alles zu dem reizend üppigen Gemälde! Nicht minder trefflich und charakteristisch ward zu Ende des fünften Akts die Schilderung von Tassos Unterredung mit dem Arzte gegeben. Es steht nicht zu erwarten, daß die einsichtsvolle Direkzion mit der Vollendung der heiligen Dreizahl dieser Vorstellungen, die Darstellung des Tasso, wie dies bei manchen andern Werken der Fall ist, für fraglich geschlossen erachten wird. Tasso ist allerdings ein Werk, mit dem man die Scheuren nicht füllen kann; aber es ist eine seltene Frucht menschlichen Geistes, durch deren Genuß sich der Geschmack für das Schöne und Edle zu bilden und sich das Gefühl für das Wahre und Rechte, und für Wohllaut und Harmonie in Gedanken und ihren Formen zu veredlen und durch deren Darstellung auf der Bühne der Fortschritt in der Kunst sich zu regen u. zu erheben vermag. Und dies ist, wie die klügsten Menschen aller gebildeten Nazionen schon seit Jahrtausenden geurtheilt haben, für die höhere geistige Bestimmung der menschlichen Gesellschaft nicht minder von sehr großem Werth. Man ist daher die von Zeit zu Zeit zu erneuernde Aufführung des Tasso der Ehre unserer Litteratur, dem Ruhme unserer Bühne, dem höheren Genusse unsers gebildeten Publikums, ja selbst dem Fortgange der Kunstbildung unter uns schuldig.
Nationaltheater: Torquato Tasso (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/569.
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