Der Plan (siehe das vorige
Blatt) ist reich an interessanten Situationen; aber er enthält auch manches
durchaus Ueberflüssige, das die Handlung schleppen macht. Dahin gehört z. B.
der ganze zweite Akt, von dem durchaus nicht abzusehen ist, was er soll? Soll
er uns Iphigenia liebenswürdig machen? Dazu hätte die Art ihres ersten
Auftretens im Lager hingereicht. Soll er uns das Schreckliche ihres Schicksals
noch einleuchtender machen, indem er sie uns in ihrem häuslichen Leben zeigt?
Er thut grade die entgegengesezte Wirkung, indem er uns Zeit läßt, uns an die
Idee des Unabwendbaren zu gewöhnen, da wir es sich allmälig entwickeln sehn. Im
ganzen Akt ist nichts, das sich nicht durch eine kurze Erzählung dem Folgenden
hätte einverleiben lassen, und so sehr viel gewirkt hätte.
Mit den Charakteren ist der
Verfasser sehr frei umgegangen. Fast kein einziger erscheint so, wie uns die
alten Dichter ihn schildern: aber das ist kein Fehler, da er zu seinem Werke
anderer Charaktere bedurfte, als das Alterthum aufstellte, und die meisten gut
und psychologisch richtig gehalten sind. – Die Sprache ist durchaus edel und
rein, nicht so dichterisch blühend als in den Schillerschen Stücken, aber doch
schön und kräftig. Wenn manche Scenen mit zu langen Reden überladen scheinen,
so muß man sich erinnern, daß die innere Handlung des Stücks sich nur durch
leidenschaftliches Räsonnement motiviren ließ, und daß der Dichter um das
Ungeheure zu motiviren, Raum brauchte. Ueberflüssige rhetorische Auswüchse hab’
ich in den drei letzten Akten nirgend gefunden; in dem ersten sind vielleicht
ein Paar, – den zweiten Akt geb’ ich preis. Im Ganzen hat dieses Stück von
allen – ich sage, von allen – deutschen Dramatischen Bearbeitungen der Süjets
aus der alten Fabelwelt, das meiste Leben und Interesse. Sehr groß kann beides
freilich nicht seyn, denn – die ganze Gattung ist, wie sie jezt in Deutschland
gestaltet ist, fehlerhaft, ein unseliges Zwittergeschlecht, das keinem
Zeitalter angehört. Doch darüber an einem andern Orte.
Die Direktion hat auf die
Darstellung Kosten und Sorgfalt gewendet. Das Costume ist schön und reich, –
auch wohl meistentheils richtig; nur Iphigenia selbst hatte sich manche kleine
Abweichung erlaubt: indeß das ist nur Kleinigkeit. Die Hauptsache beim Costume
ist – Schönheit. Madame Fleck machte Iphigenia. Die Scenen des zweiten und
dritten Aktes, so wie diejenigen des vierten, in welchen sie das innigfühlende,
schwärmerisch-liebende, und weiche Mädchen macht, können nicht schöner, hinreißender
gespielt werden, als sie that. In dem heroischen Monolog hingegen, mit welchem
sie den vierten Akt schließt, so wie im fünften Akt, wo sie Achill und ihre
Mutter zu sich zu erheben sucht, bestach zwar die reizend-durchblickende jungfräuliche
Weichheit, die sie verrieth, – aber der Schleier durch den diese blickte, war
zu durchsichtig; – mit andern Worten: sie hatte in diesen Scenen nicht die
hohe, scheinbar-kalte Festigkeit und Haltung, – das imponirende Kalte, das nur
durch Stocken in der Stimme, durch zuweilen irrenden Blick und einzeln
leidenschaftliche Ausbrüche, den Zustand übernatürlicher Spannung verräth. Daß
diese treffliche Künstlerin darnach strebte, war sichtbar: aber sie ist nun
einmal mehr für liebenswürdige, als für ehrfurchterzwingende Schwärmerei
geschaffen. Klytämnestra wurde von Mdme Schick gespielt: Sie sprach sehr
richtig und mit durchdachtem Spiel: aber sie ist bei Rollen der Art nicht in
ihrem Fache. Man sah durchaus nur die sorgsame Hausmutter, nicht die majestätische
Königin, und ihr Gesicht verrieth nichts von den wilden Stürmen in ihrem Busen.
Ihr Entschluß im vierten Akt, gar nicht einmal die Nachricht, die Nestor
bringen soll, abwarten zu wollen, ihr Ausruf:
Fern sey
von mir die Kunde, die er
bringt! – Was anders
Kann wohl ein Heer beschließen,
als Verderben, – Tod! mußte eigentlich mit erhabenem Ausdruck wilder
Entschlossenheit gesagt werden, aber – davon war nichts zu entdecken. Selbst
das Sprachorgan – Doch warum lange bei dem Verfehlten verweilen, daß einer
sonst so sehr schätzbaren Künstlerin in einem ihr durchaus fremden Fache zur
Schuld kommen konnte?
Agamemnon ist hier nicht
sowohl ein kriegerisch- als ein bürgerlichpatriotischer Held: er handelt
heroisch aus Pflichtgefühl, nicht weil ihn stürmender Muth treibt. Die
Haupt-Aufgabe also, die der darstellende Künstler auszuführen hatte, war der
Kampf der Vaterzärtlichkeit mit der Entschlossenheit des Mannes: und dieser
gelang Hrn. Beschort durchaus trefflich; – vielleicht hätte der kriegerische König
aber doch hier und dort kräftiger, herrschender in Anstand und Ton sich
verrathen sollen.
Wenn man sich unter Achill
den fürchterlichen, alles vernichtenden Würger denkt, als welcher er in den
Homerischen Schlachten erscheint, so war offenbar Hr. Bethmann für diese Rolle
nicht: denn jener Achill muß an Gestalt und Kraft über alles andre hervorragen,
muß eine furchtbar hohe Erscheinung seyn. Der Achill dieses Stückes ist aber
nur ein feurig-liebender Jüngling, aus dem sich erst der Kriegesheld entwickeln
soll, – und diesen gab Hr. Bethmann sehr gut. Vorzüglich schön gelang ihm die
Scene des dritten Aktes, in welcher er Patroklus seinen Entschluß vertraut, das
Heer zur Entscheidung aufzufordern; und die des fünften, wo er Iphigenia zur
Flucht bereden will, und sie mit Entschlüssen der Rache an Troja, verläßt. An
ein Paar Orten überraschte ihn indeß sein vormaliger Fehler, daß er die letzten
Worte verschluckte.
Kalchas ist, nach den
erstgenannten, die Hauptgestalt des Stückes; aber nach meinem Gefühl, mislang
er durchaus. Dieser furchtbare Bote der Götter sprach und spielte mit einer
sonderbaren weichen Wehmuth, die schlechterdings nicht den Repräsentanten des
Schicksals, die Autorität in ihm errathen ließ, die hier das Schrecklichste erzwingt.
– Der erhabne Moment, in welchem er Achill, am Ende des dritten Akts, da dieser
Iphigenien wider den Vater und König zum Beschützer sich aufwirft, plötzlich
durch den Ausspruch niederschlägt:
»Hinweg! Sie ist ein
Eigenthum der Götter!« hatte gar nichts Erschütterndes. Auch die Scene des 4ten
Aktes, in welcher Kalchas Iphigenia zum Enthusiasmus entflammt, der sie selbst über
die Liebe zum Leben und zu dem Bräutigam, hinweg hebt, – mislang durch den
Beichtvaterton, mit welchem Kalchas sprach. Man sah in beiden Scenen Wirkungen
ohne entsprechende Ursache, und kam in Versuchung in der lezten die
Seegensformel, mit welcher sich der Auftritt schließt, für einen Zauberspruch
zu halten.
Ueber die übrigen Rollen nach
einer künftigen Darstellung.
G. M.
Das Publikum machte mit Vergnügen die Bekanntschaft eines neuen dramatischen Dichters, des Hrn. Prof. Levezow. Das bekannte Sujet war dahin modifizirt, daß Iphigneia wirklich geopfert wird, da man die Errettung und Hinwegrückung derselben nach Tauris für eine eigenmächtige Verfälschung des Mythus durch Euripides, wie so manche andere bei ihm, hält. Homer erwähnt dieser ganzen Begebenheit gar nicht. Racine hat sich sehr albern durch seine princesse jalouse d’Eriphile zu helfen gewußt, wodurch die Iphigenia am Leben erhalten, und den gebildeten Parisern die horreur einies Wunders erspart wird, woran, wie er in der Vorrede selbst sagt, in jetzigen Zeiten (unter Ludwig dem Vierzehnten) niemand mehr glauben würde. Das deutsche Trauerspiel enthält sehr vorzügliche Einzelnheiten, wenn sich gleich gegen die Komposizion des Ganzen Einwürfe machen ließen, die aber gegründet erst dann hervortreten können, wenn das Stück im Druck erschienen ist. Auf das Antike in der Form ist Verzicht geleistet worden, und die durchgängig schöne und vortreflich versifizirte Sprache geht häufig in Reime über. Die Darstellung war nichts weniger als vorzüglich, und die Ursache der geringen Wirkung, die dieses Erzeugnis hervorbrachte, möchte ich wohl zur Last stellen.
Nationaltheater: Iphigenia in Aulis (bearbeitet von Klaus Gerlach), Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/nationaltheater/theaterstueck/605.
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