1773Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer
 am 30. März in Stargard/ Pommern geboren (nach eigenen Angaben vom
 3.2.1808 in Nürnberg).
 
 Erziehung im Waisenhaus in Halle.
 
 Dort zunächst Studium der Theologie, dann der Rechtswissenschaft. 
Promotion.
 
 Später Justizkommissar (Rechtsanwalt) und Notarius publicus am königl. Kammergericht in Berlin.
 
1791
Die Schrift "Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden" erscheint in Leipzig.
1800-1802 
Mitglied der "Gesellschaft der Freunde der Humanität".
 
1803Grattenauers Schrift
 "Wider die Juden: Ein Wort der Warnung an alle unsere christliche
 Mitbürger." erscheint bei Johann Wilhelm Schmidt in Berlin. Bis 1804 erlebt sie sechs Auflagen. 
 
In
der Vossischen Zeitung vom 16. August wird die Schrift anonym
angezeigt; zugleich erschien ebenfalls anonym auf der vorhergehenden
gegenüberliegenden Seite eine kleinere Anzeige, in welcher der
Verfasser benannt wird. Zwei Nummern später, am Sonnabend, den 20.
August, beschwert sich Grattenauer: "Der Juden-Doktor Aronsohn hat den Unfug verübt, mich [...] als
 den Verfasser [...] anzugeben. Die Schrift ist censirt, enthält keine
 Persönlichkeiten, und niemand hat das Recht, den Verfasser, der sich nicht
 selbst genannt hat, öffentlich namhaft zu machen." Er kündigt "mit
 verschiedenen gleichgesinnten Gelehrten und Geschäftsmännern" die Herausgabe
 "einer besondern Zeitschrift" an. Diese ist nicht bekannt.
 Direkt vor dieser Erklärung ist eine Rezension, mit "Anthropophilus"
 gezeichnet, gedruckt, die, diesseits der Relativierung gängiger
 Anti-Judaismen, in dreierlei Hinsicht bemerkenswert modern erscheint:
 Sie benennt als Ursache für den schlechten Leumund der Juden den "Drang der
 Umstände [...], in welchen die fatalsten staatsbürgerlichen Verhältnisse die
 Juden gesetzt haben." Mit Grattenauer wird die für die bürgerliche
 Gesellschaft "eigentliche Aufgabe" benannt, "zu zeigen: 'Wie zwischen Juden
 und Christen nie ein rechtliches und moralisches Verhältniß statt finden
 kann, so lange Geld das einzige Band zwischen beiden ist.' Wer dies
 gehörig zeigt, der macht sich nicht blos um die Christen, sondern auch um
 die Juden verdient"; um aber anzuschließen: "denn, wenn er es gehörig zeigt,
 so müssen die Juden darin den stärksten Antrieb finden, sich mit der
 Gesellschaft zu identifiziren, nicht noch länger von ihr zu leben."
 Womit das Problem ein jüdisches bleibt.
 Grattenauers Schrift hat großen Erfolg; sie ruft eine
 ganze Folge von Streitschriften hervor.  Auch seine „Erklärung an das
 Publikum über meine Schrift: Wider die Juden“ erscheint noch 1803 in fünf
 Auflagen, sogar ein „Erster Nachtrag“ zu dieser „Erklärung“ als Anhang zu
 deren fünfter Auflage erscheint noch 1803. "Ein Machtspruch der Regierung
 machte diesem ersten Aufflackern einer antisemitischen Bewegung ein Ende."
 (Goedeke)
 
 Sein Erfolg liegt sicherlich nicht in der
 Wiederaufnahme gängiger Anti-Judaismen begründet; sicherlich auch nicht in
 der bekannten, wiederkehrenden Figur der Leugnung eines Angriffs, einer
 Beleidung oder einer Verleumdung, nur um diese durch Bezug auf einen
 besonderen Fall, oder umgekehrt durch ganz allgemeine Behauptungen, oder in
 der Geste, nur seine eigene persönliche Wahrheit zu behaupten, erneut
 aufzustellen. Sich einem bestimmten Vorteil oder Vorurteil einer bestimmten
 Bevölkerungsmenge anzulehnen, auch dies ist nicht neu.
 Möglicherweise aber trifft Grattenauer mit der oben von
 jenem unbekannten Rezensenten herausgestellen Frage den Nerv einer
 Gesellschaft der Aufklärung im Umbruch vom Handels- zum Industriekapital.
 Stiftet das Geld das einzige Band der Gesellschaft, muß man dann nicht auch
 verstehen, „daß wenn von den Juden
 geredet wird, man nicht von diesem und jenem Juden, [...] sondern vom Juden überhaupt, vom Juden überall und
 nirgends, und davon spricht, wie der Jude ist und seyn soll?“
 („Erklärung“, S. 23) Es könnte die allseits drohende Ohnmacht der
 rechtlichen Ungleichheit des Juden vergleichbar erscheinen, den man im
 Zeitalter der Mündigkeit verachten zu müssen glaubt, weil er „durch seine
 eigene Schuld auf einer Stufe der tiefsten rechtlichen
 Niedrigkeit steht, von der sich zu erheben, itzt, [...] nichts als sein eigener, freier, selbstständiger Entschluß, und
 eine feste Beharrlichkeit ihn auszuführen, erfordert. wird.“
 („Nachtrag“, S. 17) Die durch Abgrenzung und Übertragung entstandene
 Gefühlskälte macht es möglich, sich mit Hohn, Spott und Verachtung am
 Schauspiel Gequälter, „höchst possirlicher Jammerphysiognomien“
 („Erklärung“, S. 19, Anmerkg.) zu weiden, weil man „einen idiosynkratischen
 Effekt“ beim „Anblick der Pein“ (ebda, S. 18) 
 ihnen, bei denen das Leid offensichtlich ist, zuschreiben kann.
 Gleichwohl beklagt Grattenauer wie selbstverständlich, was alles ihm
 (vorzugsweise von Juden) angetan worden sei.
 In Verbindung damit am wirkungsvollsten mag aber jener
 Gestus gewesen sein, der für, selbst idiosynkratische, Geschmacksurteile
 wissenschaftliche Widerlegung fordert, wie bsw. für einen
 „National-Judengestank“ („Erklärung“, S. 32), - oder besser noch dessen
 Beseitigung zugleich mit ihnen.
 Grattenauers Erfolg scheint schließlich darauf zu
 beruhen, daß er geholfen hat, den vormaligen Anti-Judaismus den
 Möglichkeiten und Bedingungen seiner Zeit anzupassen und in den
 Antisemitismus zu verwandeln. Denn so nah seine Invektiven am Puls der Zeit
 sein dürften, so haarscharf falsch ist die Frage absichtlich gestellt, um
 sich wenigstens als einen möglicherweise verkannten Propheten biblischen
 Ausmaßes gerieren zu können. „Ich hasse die Juden von ganzem Herzen, […] ich
 habe die Wahrheit geschrieben, […] nicht was man wünschte, aber was man bedurfte. […] wer Ohren
 hat zu hören, der höre! – In diesem Tone werde ich nichts mehr wider die
 Juden schreiben, ob ihnen aber das, was ich künftig in einer ganz andern Sprache mit ihnen reden will, besser
 gefallen wird, daran zweifle ich sehr.“ („Erklärung“, S. 41)
 1804
 "Wegen Unregelmäßigkeiten bei der Erhebung von Konkursgeldern" wird Grattenauer am 16.
 Februar seines Amtes enthoben und zu zweijähriger Festungshaft verurteilt,
 von denen er nach Ermäßigung durch den König 6 Monate in Glogau abbüßt.
 (Goedeke) 
 
 
1805
 zu Ostern kommt er nach Breslau.
 
 
1806
 auf Vermittlung des Provinzialministers Graf Hoym ab dem 11. Oktober Sekretär beim
 Intelligenz-Comptoir. 
 
 
1808
  ab dem 16. Januar leitender Redakteur des Intelligenz-Blattes "eine
 Art amtlicher Anzeiger". (Goedeke)
 
 
1838Grattenauer stirbt am 23. Mai Breslau.
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 "Als Schriftsteller war er ungemein regsam, lebendig; als Kritiker feurig,
 enthusiastisch-excentrisch, als Mensch originell, doch sehr schroff und
 absprechend. Sein schriftstellerisches Wirken war ein reiches
 mannichfaltiges, aber sehr oberflächliches, zersplittertes. Gründlichkeit
 und Tiefe wohnte ihm niemals bei. [...] G. war ein Mann des Augenblicks und
 den Augenblick wußte niemend besser zu erfassen, als er; [...] Wehe dem
 übrigens, der ihm gegenüber eine eigene Meinung aufzustellen wagte; [...]
 und wenn der Gegner durchaus keine Blöße gab, so wurde er bei seinen
 körperlichen Gebrechen gepackt und auf eine Weise behandelt, die freilich
 keine edle Entgegnung zuließ. Als Mensch war er dienstwillig, begeistert für
 alles Neue, Eklatante, voller Vorurtheile; [... Ein] Beurtheiler nennt den
 Verstorbenen einen ungemeinen Charakter, für den kein gemeiner Maasstab
 passe, doch müßte uns, wenn wir dies glauben sollten, die Ungereimtheit erst
 bewiesen werden, denn ein geistreicher Mann, der in Folge widriger
 Schicksalsschläge kleinlich denken lernt, ist eben ein sehr gewöhnlicher
 Charakter. [...]" (NND)
 
 Portaits 
 gezeichnet von Kröffel sen. und gestochen von W. Sander.
 
 
Publikationen:
 - Ueber die Wechselprokura. Berlin 1800.
 – Anzeige seiner Vorlesungen üb. d. Wechselrecht. ebd. 1800.
 – Ueber den Begriff der Suggestivfragen. ebd. 1803.
 – Beiträge zur Erläuterung des Wechselrechts. 2 Bde. ebd. 1803.
 – Wider die Juden. 6 Aufl. ebd. 1803-4.
 – Erklärung an das Pulikum üb. Meine Schrift: „Wider d. Juden.“ ebd.
 1803.
 – Erster Nachtrag zur Erklärung über seine Schrift: „Wider d. Juden.“ ebd.
 1803. 
 – Revisionsdeduktion in Rechtssachen derjenigen süd- und westpreuß.
 Edelleute, welche von dem Handelshause Salomon Moses Levys Witwe u. Erben in
 Berlin, auf dem Grund zweier d. ehem. Banquier J. v. Klug in Posen am 14.
 und 22. Juni ausgestellten Reverse, wegen e. angeblich übernommenen u.
 garantirten unentgeldl. Getreidelieferung v. circa 80.000 poln. Vierteln in
 Anspruch genommen worden sind. Glogau 1804.
 – Abhandl. u. Aufsätze üb. verschied. Gegenstände d. Rechtswissenschaft,
 die für gebildete Leser aus allen Ständen interessant sind. 1r Thl. ebd.
 1805.
 – Ueber d. ält. u. neuern Wechselgesetze d. Stadt Breslau. Breslau
 1806.
 – Ueber die Nothwehr. Ein Beitrag z. wissenschaftl. Behandlung d.
 Kriminalrechts. ebd. 1806. Auch unter d. Titel: Exners Tod, ein merkwürd.
 Kriminalfall rechtmäß. Nothwehr. Erkenntniß d. Kriminalsenats d.
 Oberamtsregierung in Glogau wider d. d. Hapersdorfer Müller, Joh. Gottl.
 Meschler; m. e. Vorwort u. einigen Anmerk. herausgegeben.
 -
  Publikandum des ständischen freiwill. Vereins
 u. der Breslau-Briegischen Fürstenthumslandschaft, betreff. die gegen depon.
 Pfandbriefe ausgegebene und in Kours gesetzte Pfandbriefsantheile d. d.
 Bresl. den 30. Juni 1807. ebd. 1807.
 – Ueber Neutralität, Erhaltung u. Sicherheit d. Bäder u. Heilquellen in
 Kriegszeiten, mit besond. Beziehung auf Schlesien. ebd. 1807.
 – Ueb. Generalindult u. Specialmoratorien, besond. in d. preuß. Staaten;
 eine theoret.-prakt. Erläut. der in d. Schuldexekutionsverfahren, die
 Indulte u. Moratorien betreff. röm., französ. u. preuß. Gesetze. ebd. 1807.
 2. Aufl. in 2 Bdn. 1809.
 – Ueber die Sagacität, als herrschendes Princip der Zeit; eine Vorlesung,
 am 2. Dec. 1807 gehalten. Glogau 1808.
 – Nothwend. Anang zu d. Schrift: Über Generalindult u. Specialmoratorien,
 besond. in d. preuß. Staaten; nebst dem allgem. Preuß. Moratorienedikte, d.
 d. Memel den 24. Nov. 1807 u. e. Entwurfe zu e. Moratorienverordn., mit
 besond. Rücksicht auf d. Prov. Schlesien. ebd. 1808.
 – Frankreichs neue Wechselordnung. Nach d. beigedr. Grundtexte der
 officiellen Ausg. übersetzt. Mit e. Einleitung, mit erläut. Anmerk. u. mit
 Beil. herausgegeben. Berlin 1808.
 – Ueber die Pflicht der Regierung in Rücksicht auf Schauspiele. ebd.
 1808.
 – Definitivfriedenstraktat zwischen Sr. Maj. d. Kaiser v. Oesterreich,
 König von Ungarn und Böhmen und Sr. Maj. dem Kaiser der Franzosen, König v.
 Italien, Beschützer d. rhein. Bunds, geschlossen zu Wien am 14., ratificirt
 am 16. u. 17. und ausgewechselt am 20. Oktober 1809. Mit einer vorläuf.
 Uebersicht des Länderverlusts Oesterreichs. Breslau 1809.
 – Für die Frauen; eine Sylvesterabendrede an die Männer. Mit Vignetten
 geziert. ebd. 1809. 3. Aufl. ebd. 1811.
 – Ueber Vergütigung der Kriegsschäden der Brandversicherungsgesellsch. ebd.
 1809.
 – Ordnung d. Städte d. preuß. Monarchie. ebd. 1809.
 – Ueber die preuß. Realmünzen u.s.w. ebd. 1810.
 – Reduktionstabellen der preuß. Münzen. ebd. 1810.
 – Wöchentl. Theaternachrichten od. Bresl. Miscellen. Mit Kupfern. 2 Bde.
 ebd. 1810.
 – Repertorium aller Kriegslasten, Kriegsschäden u. Kriegseinquartierungen
 betreff. neuern Gesetze u. Verordnungen; nebst vollständ. Literatur. Ein
 Handbuch für Juristen, Kameralisten, Einquartierungs-, Minicipal-, Servis-
 u. Polizeibeamte. 2 Thle. ebend. 1810.
 – Vom Stamme Aaron und dessen angebl. Vorrechten. Ein Beitrag z.
 Judenwesen. Jerusalem (Lpzg.) 1817.
 – Die Wechselstempelgesetze in d. preuß. Staaten, für Bankiers, Kaufleute
 und Geschäftsmänner. Breslau 1818.
 – Für die Brandbeschädigten in Johannisberg. Vorgelesen in dem zu deren
 Unterstützung veranstalteten Konzert. ebd. 1826.
 – Aphorismen über Thierquälerei. Zur Berichtigung der Urtheile über die
 Menagerie des Hrn. v. Dinter. Bresl. 1828.
 – Aufsätze in d. schles. Provinzialblättern; in v. Kampz Jahrbüchern f. d.
 preuß. Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung; Beiträge zur
 Bresl. Ztg., etc.
 
Literatur:
 - NND Jg. 16. 1838 (1840)
 - Sendschreiben eines Christen an einen hiesigen Juden über den Verfasser
 der Schrift: Wider die Juden (v. Sabattia Josef Wolff, 1756 - 1832), Berlin
 (Schöne) 1803
 - Vossische Zeitung Nr. 98 u. 100 v. 16. u. 20. August 1803
 
 Quelle:
 - DBI (M) I, 416, 239-249
 - Goedeke, Bd. XIII, Dresden (L. Ehlermann), 1938, S. 227 ff.