1762
Daniel Jenisch
wird am 2. April in Heiligenbeil/ Ostpreußen in
einfachen Verhältnissen geboren. Über seine Eltern ist nichts bekannt.
1780
Jenisch studiert in Königsberg Philosophie und Theologie. Er hört bei
Johann Georg Hamann und Emmanuel Kant. Nach dem Abschluß seines Studiums
geht Jenisch nach Braunschweig und übernimmt eine Anstellung als Hofmeister.
In dieser Zeit unternimmt Jenisch eine kurze Reise nach Holland.
1786
Jenisch zieht nach Berlin. Er hofft, daß ihm seine Referenzen als
Kant-Hörer zugute kommen. Er lernt u.a. Erich Biester kennen.
1788
Jenisch wird dritter Prediger an der Marienkirche. Zeitgleich versucht
er sich als Publizist einen Namen zu machen. In den folgenden Jahren
veröffentlicht er mehrere Artikel in den einschlägigen Zeitschriften der
Aufklärung, wie das "Berlinische Journal der Aufklärung", die
"Deutsche
Monatsschrift" und der "Teutsche Merkur".
1792
Jenisch wird fünfter Diakon an der Nicolaikirche. Im Juli publiziert
der auch auf literarischem Gebiet nach Anerkennung strebende Jenisch Teile
seines Heldengedichts "Borussia" auf Friedrich II. im "Teutschen
Merkur".
Wieland rezensiert das Epos wohlwollend, aber nicht überschwänglich: "An
der Versifikazion der Borussia ist (soweit sich nach den Proben urteilen
läßt) überhaupt mehr zu loben als zu tadeln". Dennoch bemängelt er
einige Gleichnisse, die Jenisch offenbar von anderen Autoren übernommen hat,
sowie einige "übel organisierte Verse". (Teutscher Merkur, Bd. II,
S.
430-435). 1796 bedecken Schiller und Goethe das Jenische Werk in
ihren "Xenien" mit Spott. Xenie 268, Borussias betitelt, lautet: "Sieben
Jahre nun währte der Krieg, von welchem du singest?/ Sieben Jahrhunderte,
Freund, währt mir dein Heldengedicht".
1793
Ernennung zum Professor an der Berliner Akademie der Künste, der Bauakademie und am französischen Gymnasium. An der Akademie übernimmt Jenisch die Nachfolge seines Förderers und Freundes Karl Philipp Moritz. Jenisch hatte für dessen "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" einige
Beiträge verfaßt.
1794
Jenisch heiratet Henriette Diterich. Die Hochzeit mit der Tochter des Oberkonsistorialrats der St. Marienkirche hat keine beruflichen Auswirkungen, innerhalb der Kirche macht Jenisch keine große Karriere. Aus der Ehe geht eine Tochter hervor.
1795
Ein literarischer Disput zwischen Jenisch und Goethe endet für den Berliner Prediger demütigend: Im März erscheint im "Berlinischen Archiv
der Zeit und ihres Geschmacks" anonym sein Text "Über Prose und
Beredsamkeit der Deutschen". Nach der dort formulierten These hängt die Qualität der Literatur eines Landes mit der Stufe seiner kulturellen Entwicklung zusammen. Jenisch kritisiert die deutsche Literatur und ihre "Armseligkeit, an vortrefflichen classisch-prosaischen Werken jeder Gattung". Er führt diesen Mangel auf die fehlende
Bindung der Literatur an gesellschaftliche Verhältnisse zurück. Durch die Distanz von Kunst und Gesellschaft entstehe in Deutschland anders als etwa in Frankreich keine Prosa, sondern vor allem Dichtkunst. Ausgleichend fordert Jenisch am Beispiel des Nachbarn "ein gewisses geselliges Ebenmaaß und harmonisches Spiel der Seelenkräfte unter einander".
Im Aufsatz beurteilt Jenisch einzelne Autoren, wenngleich sie nicht namentlich genannt werden. Von Goethe heißt es vermeintlich, er sei ein Autor, der "alles glücklicher empfindet, als darstellt, und wenigstens kein classischer Prosaiker".
Goethe wittert hinter der Anonymität einen Anhänger der Revolution, zumal
das "Berlinische Archiv" im Ruf steht, mit den Ereignissen in Frankreich zu sympathisieren. Seine in den "Horen" veröffentlichte Gegendarstellung "Literarischer Sanscülottismus", läßt an Jenisch
kein gutes Haar. Goethe empfindet dessen Thesen als "ungebildete Anmaßung, womit
man sich in einen Kreis von besseren zu drängen, ja Bessere zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen denkt. (...) Viel zu spät kommt der
Halb-Kritiker, der uns mit seinem Lämpchen vorleuchten will; der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen". Goethes Tadel gipfelt in der heftigen Aussage über "den mißlaunischen Krittler": "Man entferne ihn aus der Gesellschaft, aus der man
jeden ausschließen sollte, dessen vernichtende Bemühungen nur die Handelnden mißmutig, die Teilnehmenden lässig und die Zuschauer mißtrauisch und
gleichgültig machen könnte". (Goethe:
Ästhetische Schriften 1771-1805, S.
320-324).
Goethes egozentrische Reaktion wirkt überzogen und in gewisser Weise antigesellschaftlich, da sie die diskursive Funktion eines Kritikers ablehnt und nur eine Meinung anerkennt. Zudem kommt sie zu schnell. Jenischs Text war auf zwei Teile angelegt. Die Fortsetzung, die einige Passagen relativiert und erklärt hätte, wartet Goethe nicht ab. Allerdings ist Jenischs Aufsatz schon vor seiner Veröffentlichung nicht unumstritten. Die Herausgeber wehren sich in einer eigens verfaßten Vorbemerkung "einen gewissen schneidenden absprechenden Ton gleichsam gut zu heißen".
Wilhelm v. Humboldt tritt in dieser Affäre als Agent der Weimarer auf. In seinen Briefen an Schiller kolportiert er die Autorenschaft Jenischs und versorgt seinen Freund mit teilweise hämischen Neuigkeiten. Am 26. Oktober schreibt er: "Jenisch will eine Ehrenrettung der "Horen"
schreiben und sie Gentzen für seine "Monatsschrift" geben. Es versteht sich, daß
dieser sie nicht annimmt" (Briefwechsel
Schiller-Humboldt, Bd. 1, S. 196).
Seine eigentliche Gegendarstellung veröffentlicht Jenisch im "Berlinischen Archiv", wo er Goethe zustimmt und sich bemüht, das Mißverständnis auszuräumen. Goethe und Schiller strafen ihn im Folgenden mit Nichtachtung, ausgenommen in der 268. "Xenie" (s.o.). Eine Würdigung
des Wilhelm Meister von Jenisch ignoriert Goethe ebenso, wie andere Schriften und Jenischs Annäherungsversuche.
1796
Jenischs Antwort auf die Preisfrage der Akademie der Wissenschaften nach der "Vergleichung der Hauptsprachen Europas", sowohl der älteren
und neueren wird ausgezeichnet. Er erhält 50 Dukaten für seine "Philosophisch-kritische Vergleichung und Würdigung von 14 ältern und
neuern Sprachen Europens".
Auch in der heutigen Forschung wird diese Schrift gewürdigt. Brigitte Schlieben-Lange und Harald Weydt bewerten sie als "einen
bemerkenswerten, kohärenten und originellen Beitrag zum Sprachdenken seiner Zeit. Man kann sogar sagen, daß er einige Gesichtspunkte, die später, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, gerade die Stärke der deutschen Sprachphilosophie ausmachen, als einer der ersten explizit formuliert. Dies gilt ganz sicher für die Würdigung der Vielfalt der Sprachen, gegen die Annahme einer großen Einheitlichkeit im Stil durch die Allgemeine Grammatik und gegen die Behauptung einer Hegemonie einer bestimmten Sprache". (in: Sprache und Sprachen in Berlin um 1800, S. 238).
1797
Im Juli unternimmt Jenisch eine Reise nach Weimar. Er trifft Goethe und Herder. Goethe vermerkt in den Tagebüchern nur ein gemeinsames Mittagsessen, das dem anwesenden Böttiger zufolge positiv verläuft. Dieser schreibt an F. A. Caraus: "Jenisch ist einer der besten Köpfe in Berlin. Seine
Kritik des Wilhelm Meister findet Goethe selbst sehr gut". (Goethe: Begegnungen und Gespräche, Bd. IV, S. 324).
Herder behält ein abendliches Treffen allerdings anders in Erinnerung. 1799, anläßlich eines literarischen Streites in Berlin, in den Jenisch verwickelt ist, schreibt er an Klopstock: "Ich habe diesen Prediger vor einigen Jahren in meinem Haus kennen lernen müssen, und er ward den kleinsten der Gesellschaft lächerlich, der größte und unbedachtsamste Schwätzer, den ich während meines leidigen Lebens kennen gelernt habe, dem Sprechen und Schreiben eine gesunde Diarrhöe ist. (...). Kurz, der Mensch
ist keines Andenkens, geschweige einer Erwähnung werth; er ist auch Dichter der Borussias, des großen Heldengedichts in zwei Octav-Bänden, das niemand gelesen hat als der Verfasser". (Herder: Briefe, Bd. 8, S. 106.)
1798
Der Theologe Johann Friedrich Abegg trifft während seines Berliner Aufenthaltes mit Jenisch zusammen. Er schildert die Begegnung wie folgt: Zu dem Prediger Jenisch führte mich ein gewisser Herr Theodor, ein jüdischer Gelehrter voll Kraft und Unbefangenheit und überaus gefällig. Wir trafen Jenisch an, wie er aus der Bibliothek heimging. Er hatte einige Bücher der Angerschen französischen Übersetzung des Demosthenes unterm Arm,
und das Gespräch fiel auf Demosthenes, um so mehr, da er eben an der Übersetzung der 1. Philippica und einiger anderen Reden von Demosthenes und Cicero arbeitet, um hierbei Gelegenheit zu nehmen, beide Genies miteinander zu vergleichen, und über das Gemeinschaftliche derselben Reflexionen zu machen. Auch seine jüngste Preisschrift über die gegenseitigen Vorzüge der Alten und Neuen sprach er viel. Letztere Abhandlung ist noch nicht ganz abgedruckt, auch das Manuskript seiner Übersetzung der Philippica las
er mir vor. Ich machte ihm einige Bemerkungen und fragte ihn hernach auch: ob er nicht Herder gemeint habe in seinem Buch über Wilhelm Meister, wie er eines gewissen Prosaisten erwähnt habe, der das nicht wäre, was er seyn könnte. 'Haben Sie dies erraten?' sagte er und lachte laut auf. 'Ich war vor kurzem bei Herdern selbst. Dieser erzählte mir, daß seine Frau, würklich eine sehr gebildete gelehrte Frau, mit großem Interesse sein Buch über Meister gelesen habe. Diese delikate Frau muß es ihm nicht gesagt haben' - 'oder Er ihr nicht?' - Er spricht zu viel selbst. So arbeitet er auch in einem Zuge fort an einer Arbeit, voll Kenntnis und Gelehrsamkeit. Er bat mich dringend ihn wieder zu besuchen" (Abegg 1987, S. 110)
1799
Ernennung zum vierte Diakon an der Nicolaikirche.
Publizistisch macht Jenisch mit der polemischen Schrift "Diogenes
Laterne" auf sich aufmerksam. Die Romantik als neue Literaturströmung ist das Ziel seiner Satiren. Dabei schreckt Jenisch nicht vor antisemitischen Äußerungen, anspielend auf Friedrich Schlegels Frau Dorothea, die Tochter Moses Mendelsohns, zurück. Die Brüder Schlegel antworten mit einer ironischen Notiz im Athenäum: "Der Verfasser der Borussias ist eben am hundert
zwey und zwanzigsten Gesange seiner Jenischias, eines Heldengedichts in
Hexekontametern, das fortgesetzt wird. In diesem Gesange beschreibt er, wie er einmal als Studium der Borussias alle seit Erschaffung der Welt geschriebenen Heldengedichte in vierzehn Tagen durchgelesen. Seine berühmte Fehde mit dem Magister Reinhard wegen einer Brieffälschung hofft er in zehn Gesängen abzuthun; die Vergeichung von vierzehn Sprachen zum Behuf einer Preisaufgabe der Berliner Akademie ebenfalls. Die Erfindung der gestirnten Oden, nämlich solcher, die häufig durch drey Sternchen in Absätze gesondert werden, weil in einem Strich fort zu langweilig sein würden, soll
einstweilen den Beschluß machen". (Athenäum II,2, S. 332 ff.).
Ab 1800
Jenisch schreibt und publiziert universalhistorische Schriften, darunter die dreibändige Kulturgeschichte "Geist und Charakter des 18.
Jahrhunderts". Die "Conduitenlisten", die über kirchliche Angelegenheiten Buch
führen, erwähnen 1800 eine längere Krankheit. Zudem steckt die Familie in Geldnöten. Ein Jahr
zuvor hatte sich Jenisch mit der Bitte an den König gewand, ihm mehr Geld für seine verschiedenen Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen. Zur selben Zeit erfolgt die Beförderung zum vierten Diakon der Nicolaikirche. Ein Predigergehalt um 1800 beträgt etwa 200 Taler im Jahr.
1804
Die Umstände von Jenischs Tod sind nicht vollständig geklärt. Offenbar ertränkt sich der Prediger am 9. Februar in der Spree. Ein am Ufer gefundener Regenschirm weist auf Selbstmord hin. Andere Quellen sprechen davon, daß Jenisch sich in ein Kloster zurückgezogen habe. Offiziell kann Jenisch nicht für tot erklärt werden. Aus diesem Grund erfährt die Witwe Henriette von Seiten der Kirche keine finanzielle Unterstützung mehr. Die freie Predigerstelle wird schon am 15. Februar, sechs Tage nach Jenischs Verschwinden, neu besetzt.
1806
kommt es zu einem Mißverständnis. Im Zusammenhang mit der Verhaftungswelle von Napoleongegnern wird ein Augsburger Buchhändler mit dem Namen Jenisch festgesetzt. Henriette vermutet dahinter ihren Mann. Nachforschungen ergeben jedoch, daß dieser den Vornamen Karl Friedrich trägt.
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Daniel Jenisch studierte in Königsberg Theologie und Philosophie unter anderem
bei Kant. Das Studium schloß er mit dem Magistergrad ab. 1786 siedelte er nach Berlin über, wurde erst dritter Prediger an der Marienkirche und später vierter Diakon an St. Nicolai. Auch um die Wissenschaft machte sich Jenisch verdient. 1793 übernahm er die Professuren für Altertumskunde an der Berliner Akademie der bildenden Künste, für
Geschäftsstil an der Bauakademie und für deutsche Literatur am französischen Gymnasium. All diese Tätigkeiten verdeutlichen den weiten Interessenshorizont des Spätaufklärers und Kantianers. Jenisch verkörperte den
für das 18. Jahrhundert typischen Universalgelehrten, er muß zu den Intellektuellen der Zeit um 1800 in Berlin gerechnet werden. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zur Philosophie und insbesondere zu Kant, sowie zu theologischen, philologischen oder sprachwissenschaftlichen Themen. Seine historischen Schriften vermitteln Einblicke in die entstehende Geschichtswissenschaft. Nicht zuletzt verstand sich Jenisch als Wissenschaftstheoretiker. Zwischen 1786 und 1804 publizierte er 30 Bücher. Darüber hinaus übersetzte er englische und
französische Texte ins Deutsche. Er veröffentlichte in den bekannten Zeitschriften der Zeit, u. a. im "Berlinischen Journal der Aufklärung" und im
"Teutschen Merkur". Die Akademie der Wissenschaften ehrte ihn mehrfach für seine
Verdienste in Wissenschaft und Publizistik. Dennoch blieb ihm der entscheidende Durchbruch versagt. Finanziell waren seine Schriften kein großer Erfolg. Der Grund für die fehlende Anerkennung, besonders aus Weimar, ist wohl in seinem Auftreten zu suchen. Zudem hatte Jenisch Zeitlebens mit der Deutungshoheit zu kämpfen, die andere innehatten. Goethes Kritik scheint aus heutiger Sicht nicht vollständig nachvollziehbar. Die Folgen dagegen schon: Der zu aufdringlich um Aufmerksamkeit buhlende Prediger wird von den Weimarern und ihren Bekannten geschnitten, was einer intellektuellen Isolation gleichkommt.
Jenisch galt als schwieriger Zeitgenosse. Er litt an Depressionen und an einer "Zerrüttung des Gedankensystems".
Ein Biograph schrieb über Jenisch und seine immer komplizierter werdenden Werke: Sein "reizbar, leidenschaftlich gestimmtes Gemüht setzte ihren
Verfasser zu weit über die Schranken des ruhigen Nachdenkens hinaus" und
verhinderte eine weiterführende Karriere. In seinen letzten Lebensjahren trat Jenisch oft als Verteidiger einer Gefühlsreligion auf. Infolge seiner
Schwermut ertränkte er sich möglicherweise in der Spree. Andere, unsichere
Quellen sprechen davon, Jenisch sei aus Berlin fort in ein Kloster gegangen und dort verstorben. Im Gedächtnis bleibt er durch einige wenige Schriften.
Seine Frau Henriette gab im Zusammenhang mit dem Mißverständis von 1806 eine Beschreibung ihres Mannes an die Behörden, mit deren Hilfe sie ihn leichter identifizieren sollten. Darin heißt es: "Er ist von mittlerer Größe fein gebaut, ehr mager als stark. Sein ganzes Äußeres verräth den edlen geistvollen Mann. Sein Gang und seine Bewegungen sind rasch. In seinem ehmals schönen Gesicht müßen sich jetzt tiefe Spuren von Schwermuth zeichnen. Er ist 44 Jahr alt. Die Form seines Gesichts ist länglich seine Farbe mehr weiß als braun und recht lebhaft roth. Haar und Augen sind hellbraun und der Übergang von der Stirn zur Nase ist äußerst fein". (zitiert nach: Sauder:
Jenisch-Ausgwählte Texte, S. 105).
Person: Daniel Jenisch, Berliner Klassik, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003-2013. URL: https://berlinerklassik.bbaw.de/personen/539.
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