Lebenslauf:
1777
Am 18. Oktober wird
Heinrich von Kleist als Sohn des preußischen Majors und Kapitäns Joachim
Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike geboren. Von den
Vollgeschwistern ist Ulrike von Kleist (1774-1849) seine Lieblingsschwester.
1788
Tod des Vaters. Die Erziehung übernimmt der Prediger Samuel Heinrich Catel
in Berlin.
1792
Eintritt ins Garderegiment Potsdam als Gefreiter- Korporal.
1793 bis 1795
Teilnahme am Rheinfeldzug. Tod der Mutter.
1797
Beförderung zum Leutnant. Reise in den Harz mit dem Freund Rühle v.
Lilienstein.
1799
Universität in Frankfurt/ Oder. Freundschaft und Verlobung mit Wilhelmine
v. Zenge. Verstärkte Kritik am Militär und Hinwendung zur Wissenschaft. In
einem bekannten Brief an seinen alten Lehrer Christian Ernst Martini, einen
Theologen aus Frankfurt, beschreibt Kleist seinen Sinneswandel gegenüber dem
Militär: "Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der
Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner
herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für soviele Exerziermeister,
die Soldaten für soviele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste
machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei. Dazu kam noch,
daß ich den üblen Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft
zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen zu strafen, wo ich gern verziehen hätte,
oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen; und in beiden Fällen hielt ich mich
selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir
entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus
entgegengesetzten Prinzipien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft
war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten
beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für
unmöglich". (Kleist 1965, S. 479).
1800
Im August Rückkehr nach Berlin. Im Herbst folgt gemeinsam mit seinem Freund
Ludwig v. Brockes, dem Enkel Barthold Hinrich Brockes eine rätselhafte Reise
nach Würzburg. Anlaß für diese Reise ist vermutlich ein bezeugter Besuch bei
dem Arzt Joseph Wirth, der "Schwierigkeiten im Sexuellen"
(NDB) behandeln soll. Die genauen Umstände der Reise liegen im Dunkeln. An
seine Schwester Ulrike schreibt Kleist am 14. August geheimnisvoll: "Indessen
erinnere Dich, daß ich bloß die Wahrheit verschweige, ohne indessen zu lügen,
und das meine Erklärung das Glück, die Ehre und vielleicht das Leben eines
Menschen durch diese Meise zu retten, vollkommen gegründet ist". (Kleist
1965, S. 513).
Erste dichterische Entwürfe („Familie Ghonorez“, „Penthesilea“). Verstärkte
Kantlektüre und Auseinandersetzung mit Rousseau. Anstellung als Volontär im
preußischen Wirtschaftsministerium.
1801
In der so genannten "Kantkrise" verliert Kleist den Glauben an
die Wissenschaft und an die Aufklärung, als deren Ziel er die Umsetzung seines
individuellen Lebensplanes definiert. An Ulrike schreibt er: "Mein
einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt
mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß und suche ein neues
Ziel". (Kleist 1965, S. 636). Es folgt eine Reise mit Ulrike von
Dresden über Halberstadt (Treffen mit Gleim), Göttingen, Mainz und Straßburg
nach Paris. Dort Arbeiten am „Robert Guiskard“. Ende des Jahres Reise in die
Schweiz nach Bern und Thun.
1802
Kleist wohnt auf einer Insel in der Are bei Thun, wo er versucht, die
rousseausche Utopie vom bäuerlichen Leben für sich zu realisieren. Er fordert
Wilhelmine v. Zenge auf, ihm in die Schweiz zu folgen. Umgang mit Heinrich
Gessner (Sohn des Idyllendichters), Heinrich Zoschke und Ludwig Wieland (Sohn
Christoph Martin Wielands), die ebenfalls in der Schweiz leben. Als sie ablehnt
wird die Verlobung aufgelöst. Ausgiebige literarische Tätigkeit: Fertigstellung
der Familie Schroffenstein, Arbeit am "Zerbrochenen Krug" und
"Robert Guiskard". Im Juli Krankheit und "Zusammenbruch".
Seine Schwester Ulrike holt ihn ab. Gemeinsam mit ihr und Ludwig Wieland fährt
er im Herbst nach Weimar, wo er bis zum Frühjahr bei Ch. M. Wieland in
Oßmannstedt wohnt und von ihm Zuspruch als Dichter erhält. Besonders den „Guiskard“
hebt Wieland hervor.
1803
Veröffentlichung der "Familie Schroffenstein". Reise nach Leipzig
und Dresden. Im Juli Fußreise mit dem Freund Ernst v. Pfuel nach Bern, Mailand,
Genf und Paris. Dort folgt im Oktober Kleists bisher heftigster Zusammenbruch,
der in der Verbrennung des „Guiskard“-Manuskripts kulminiert. Rückkehr nach
Deutschland.
1804
Der Arzt Georg Christian Wedekind aus Mainz nimmt sich Kleists an. Rückkehr
nach Berlin. Wiedereintritt in den preußischen Staatsdienst.
1805
Versetzung nach Königsberg. Arbeit in der Domänenkammer unter Karl Freiherr
v. Stein zum Altenstein. Arbeit am "Michael Kohlhaas",
"Amphitryon", an der "Marquise von O." und
"Penthesilea".
1806
Urlaub, kurz darauf endgültige Aufgabe der Beamtenlaufbahn. Im Oktober
folgt der militärische Zusammenbruch Preußens, den Kleist in einem Brief an
Ulrike vom 24. Oktober mit den Worten kommentiert: "Wie schrecklich
sind diese Zeiten. (...). Mein Nervensystem ist zerstört. (...). Wir sind die
unterjochten Völker der Römer". (Kleist 1965, S. 771).
1807
Französischen Truppen verhaften Kleist bei Berlin. Von Februar bis Juli
Gefangenschaft in Frankreich in Joux und Châlons-sur-Marne. Dort Fertigstellung
der "Marquise von O.". Adam Müller gibt in Dresden Kleists
"Amphitryon" heraus. Im August wird Kleist aus der Gefangenschaft
entlassen. Rückkehr nach Deutschland und Umzug nach Dresden. Dort ausgeprägter
gesellschaftlicher Umgang u. a. mit C.G. Körner, Adam Müller, Sophie von Haza,
Ludwig Tieck, Varnhagen, den Freunden Pfuel und Rühle von Lilienstein, Baron Buol
etc. In Dresden reift die Idee des antinapoleonischen Widerstandes.
Fertigstellung der "Penthesilea" und des "Käthchens von
Heilbronn".
1808
Kleist gibt zusammen mit Adam Müller die monatlich erscheinende
Kunstzeitschrift "Phöbus" heraus. Im Vorwort der ersten Ausgabe
schreiben Kleist und Müller: "Kunstwerke, von den entgegengesetztesten
Formen, welchen nichts gemeinschaftlich zu sein braucht, als Kraft, Klarheit
und Tiefe, die alten, anerkannten Vorzüge der Deutschen- und Kunstansichten,
wie verschiedenartig sie sein mögen, wenn sie nur eigentümlich sind und sich zu
verteidigen wissen, werden in dieser Zeitschrift wohltätig wechselnd aufgeführt
werden". (Kleist 1965, S. 446).
Im "Phöbus" erscheinen auch einige von Kleists Werken, u. a.
"Penthesilea" und "Der Zerbrochene Krug", in Teilabdrücken.
Aufführung des "Zerbrochenen Krugs" durch Goethe in Weimar mit
geringem Erfolg. Hinwendung zur "politischen" Dichtung. Zwischen Juni
und Dezember schreibt Kleist die "Hermannsschlacht" und wähnt sich
mit dem "vaterländischen Drama" am Puls der Zeit.
1809
Kleist reist zusammen mit dem Historiker Christoph Dahlmann über Prag nach
Wien, um sich dort dem Kampf gegen Napoleon anzuschließen. In Prag schmieden
sie Pläne, ein "patriotisches Wochenblatt" mit dem Titel "Germania"
zu gründen. Briefkontakt mit Friedrich Schlegel, der in Wien unter Friedrich
Gentz gegen Napoleon arbeitet. Am 22. Mai Besuch des Schlachtfelds von Aspern,
wo die österreichische Allianz Napoleon einen Tag zuvor geschlagen hat.
Politische Lyrik, "Katechismus der Deutschen". Am 5. und 6. Juli
Niederlage der Österreicher bei Wagram. Scheitern des Zeitschriftenprojektes.
Eine Krankheit Kleists verhindert die Weiterreise nach Wien, stattdessen
Rückkehr nach Frankfurt/ Oder.
1810
Anfang des Jahres erneuter Umzug nach Berlin. Dort gesellschaftlicher
Umgang u. a. mit Adam Müller, Achim v. Arnim, Clemens Brentano, Carl Maria v.
Weber, Rahel Lewin, August v. Varnhagen, Fouquè. Kontakt zur "Christlich
Deutschen Tischgesellschaft" und zu den preußischen Reformern. In Berlin
erscheinen bei Reimer das "Käthchen von Heilbronn" und ein erster
Band mit Erzählungen. Inhalt: „Michael Kohlhaas“, „Das Erdbeben von Chili“, „Marquise
von O“. Im Oktober gründet Kleist die "Berliner Abendblätter", eine
Mischung aus Literaturzeitschrift, politischer Publizistik, Anekdotensammlung
und boulevardähnlichem Tageblatt. Die Zeitschrift kann als Novum in der
deutschen Presselandschaft gelten, da sie außer Sonntag täglich erscheint und
als erste Zeitung die Polizeiberichte veröffentlicht. Kleist kommt hier seine
Freundschaft mit dem Berliner Polizeipräsidenten Justus von Gruner zugute, der
ihn bis zu seiner Entlassung mit Nachrichten versorgt.
Im Extrablatt der ersten Ausgabe der "Berliner Abendblätter" vom 1.
Oktober erklärt der Herausgeber: "Durch den königl. Präsidenten der
Polizei, Herrn Gruner, der jedes Unternehmen gemeinnütziger Art mit so vieler
Güte und Bereitwilligkeit unterstützt, sind wir in den Stand gesetzt, (...)
Alles was innerhalb der Stadt, und deren Gebiet, in polizeicher Hinsicht,
Merkwürdiges und Interessantes vorfällt, ungesäumten und glaubwürdigen Bericht
abzustatten". Ziel sei es "eine fortlaufende Chronik, nicht
nur der Stadt Berlin, sondern des gesammten Königreichs Preußen, (zu)
bilden". In der Ausgabe vom 4. Oktober präzisiert Kleist sein
Anliegen: "Die polizeilichen Notizen, welche in den Abendblättern
erscheinen, haben nicht bloß den Zweck, das Publikum zu unterhalten, und den
natürlichen Wunsch, von den Thatsachen und Gegebenheiten authentisch unterrichtet
zu werden, zu befriedigen. Der Zweck ist zugleich, die oft ganz entstellten
Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse zu berichtigen,
besonders aber das gutgesinnte Publikum aufzufordern, seine Bemühungen mit den
Bemühungen der Polizei zu vereinigen, um gefährlichen Verbrechern auf die Spur
zu kommen, und besorglichen Übelthätern vorzubeugen". (Kleist 1997, S. 11
und 24).
In den "Abendblättern" veröffentlicht Kleist auch die bekannten
Essays "Über die Gedanken beim Reden" und "Über das
Marionettentheater".
1811
Am 30. März erscheint die letzte Nummer der "Abendblätter".
Schwierigkeiten mit den Verlegern, die Entlassung Gruners und Beschwerden des
Staatskanzlers Hardenberg bedeuten das Aus für die Zeitung, die in den ersten
Wochen reißenden Absatz fand. Der "Zerbrochene Krug" und der zweite
Band mit Erzählungen erscheinen. Inhalt: Verlobung in St. Domingo, Das
Bettelweib von Locarno, Der Findling, Die heilige Cäcilie, Der Zweikampf.
Dennoch finanzielle Mittellosigkeit. Im Sommer Umgang mit Gneisenau, Marie von
Kleist und Henriette Vogel, der schwerkranken Frau des königlichen Rendanten.
In ihr findet er eine letzte Freundin und Partnerin zum Selbstmord. Am 20.
November fahren die beiden an den Wannsee und nehmen in einem Gasthaus Quartier.
Die ganze Nacht schreiben sie Briefe. Die letzte Nachricht schreibt Kleist an
die Schwester Ulrike, in der er sich mit ihr versöhnt und sich von ihr
verabschiedet. Am nächsten Morgen bezahlen sie die Rechnung und machen einen
Spaziergang zum Seeufer. Dort tötet Kleist Henriette Vogel nach ihrem
Einverständnis durch einen Schuß in die Brust, bevor er sich selbst erschießt.
Beide sind auf der Stelle tot. Kleist wurde 34, Henriette Vogel 31 Jahre alt.
Mord und Selbstmord erregen in Berlin großes Aufsehen und werden eine
Skandalgeschichte.
Die Zeitschrift "Der Freymüthige" berichtet am 26. November: "Gegenwärtig
spricht die Stadt von einer in unserer Nähe vorgefallenen, schauerlichen
Begebenheit: Der Dichter v. Kleist und Madame Vogel wurden am 21. d. M. drei
Meilen von hier (auf dem Weg nach Potsdam, bei dem sogenannten neuen Kruge) tod
gefunden. Der allgemeinen Sage nach hat v. K. zuerst jene Frau und dann sich
selbst durch Pistolenschüsse getötet, doch waltet ein tiefes Dunkel über dem
ganzen Vorfall". (Sembdner 1997, S. 17).
1821
Ludwig Tieck gibt "Hinterlassene Schriften" heraus, in denen die
"Hermannsschlacht" und der "Prinz von Homburg" erstmals
veröffentlicht werden. Tieck, der Kleist 1808 in Dresden kennen gelernt hatte,
stellt den "Hinterlassenen Schriften" einen Nachruf voran: "Nur
selten zeigt die Natur die grausame Laune, daß sich Talent, Neigung,
Widerspruch und Charakter so mischen und streitend verirren, daß das irdische
Dasein selbst sich zerstört, aber unter diesen Seltenen erfordern wenige so
unser Mitleid, unsere Achtung und Teilnahme auf, wie Heinrich Kleist. (...)
Wenn er zuletzt auch wohl nicht an seinem Talent verzweifelte, so mußte es ihn
doch betrüben und verstimmen, daß die Welt um ihn so wenig Kunde von seinen
Arbeiten nahm. Denn auch darin ist dieser Dichter unglücklich zu nennen, daß in
einer Zeit, in welcher sich nur wenig Aechtes in unser Literatur zeigte, er
fast unbemerkt blieb, indessen neben ihm Autoren berühmt wurden, weil sie den
krakhaften Bedüftnissen der Zeit fröhnten und andere, von denen sich garnicht
angeben läßt, warum ihnen dieser Vorzug zuteil wurde. (...). Heinrich von
Kleist war von mittlerer Größe und ziemlich starken Gliedern, er schien ernst
und schweigsam, keine Spur von vordringender Eitelkeit, aber viele Merkmale
eines würdigen Stolzes in seinem Betragen. Er schien mir den Bildern des
Torquanto Tasso Aehnlichkeit zu haben, auch hatte er mit diesem die etwas
schwere Zunge gemein".
Tieck druckt in seinem Vorwort den Teil eines Briefes seines Freundes Karl W.
Ferdinand Solger ab, in dem der Philosoph die Dichtung Kleists charakterisiert:
"Was ihn mir dagegen weit über unsere Dichtung erhob, das war sein
tiefes und oft erschütterndes Eindringen in das innerste des menschlichen
Gefühls, das er mir nur oft zu hart und roh an das Licht riß, und an die
außerordentliche energische und plastische Kraft der äußern Darstellung, wovon
wir in den Schattenspielen unrer *** so wenig finden". Gemeint
ist die dem Zeitgeist angepasste und thematisch einseitige Dichtung eines
Fouqué u.a., dessen Name Solger durch die Sterne kaschiert hat. Solger beendet
den Brief mit den Worten: "Ich kann nicht ohne Wehmut Kleists Sachen
lesen". (Kleist 1821, S. XXII-XXVII und LXXV-LXXVIII).
Verwendete Literatur:
Kleist, Heinrich v.: Die Berliner Abendblätter. Bd. 1. Hrsg. von Roland
Reuß und Peter
Staengle. Basel: Stromfeld/Roter Stern 1997. (= Heinrich v. Kleist:
Sämtliche Werke.
Berliner Ausgabe II. 7. Band 1)
Kleist, Heinrich v.: Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften. Hrsg.
von Ludwig Tieck.
Berlin: Reimer 1821
Kleist, Heinrich v.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 2. Hrsg. von
Helmut Sembdner.
München: Hanser 1965
Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine
Wirkungsgeschichte in
Dokumenten. München: dtv 1997
SH